Sendedatum: 16.03.2000 21:00 Uhr

Börsenrausch und Aktienfieber - Wie Banker und Manager abkassieren

Anmoderation

CHRISTOPH LÜTGERT:

Auch bei uns geht es heute Abend um den neuen Volkssport der Deutschen: mit Aktien ganz schnell reich werden. Geradezu bescheuert muss sein, wer noch mit normaler Arbeit versucht, sich langsam ein Vermögen aufzubauen. Sowas geht jetzt ratz-fatz, und zwar an der Zockerbude, altmodisch auch Börse genannt. Eine Internet-Klitsche wird auf einmal so viel wert wie ein ganzer Auto-Konzern. Und zu Beginn dieser Woche grassierte die Infineon-Hysterie. So gut wie keiner kennt Halbleiter, aber alle wollten Infineon-Aktien haben. Die Spekulationsblase wird immer praller. Und wenn sie einmal platzt? Die professionellen Profiteure der kollektiven Unvernunft können in jedem Fall die Schampus-Korken knallen lassen.

VIDEO: Börsenrausch: Wie Banker und Manager abkassieren (8 Min)

KOMMENTAR:

Das Beste ist gerade gut genug. Mit Champagner auf den gelungenen Börsenstart.

Infineon, das ist schließlich ihre Kreation. Die Frankfurter Werbeagentur Thompsen hat eine Aktiengier entfacht, die bislang ohne gleichen ist - mit einer 35 Millionen Mark teuren Werbekampagne. Das Ergebnis: Infineon, inzwischen weit mehr als eine Aktie, ein Lebensgefühl - reich werden leicht gemacht - ohne zu arbeiten.

Eine Botschaft, die auch in Mecklenburg-Vorpommern ankommt. Zur selben Zeit in Ribnitz-Dammgarten. Die Party hat noch nicht begonnen, noch gibt es Hoffnungen auf den großen Börsencoup.

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BANKKUNDE:

"Infineon-Aktien, kann man die zeichnen?"

BANKANGESTELLTER:

"Infineon hat eigentlich eine ganz gute Werbung gemacht, und die Aktien, die neuen Aktien in der jüngsten Zeit, Telekom, Plasma Select zum Beispiel, die hier in der Region ansässig sind, haben eigentlich ein gutes Beispiel gegeben, da mal mitzumachen."

KOMMENTAR:

Was die Werbeprofis zum Börsenstar hochfrisierten, hieß früher schlicht "Siemens-Halbleiter". Das allerdings klang gar nicht sexy, also neue Verpackung und ab an die Börse.

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RICHARD LAURENCE:

(Werbeagentur Walter J. Thompson)

"Wir hatten ein Image gebaut, ganz bestimmt. Vor sechs Monaten hat niemand über Infineon gewusst. Die Aufgab war, diese eigentlich unbekannte Firma mit einem eigentlich langweiligen Produkt bekannt zu machen."

KOMMENTAR:

Halbleiter, nicht nur langweilig, sondern auch extrem risikoreich. Siemens hat mit den Chips in den letzten Jahren Milliarden-Verluste gemacht, musste sogar ein Werk in Großbritannien nach zur zwei Jahren wieder schließen. Vom Konkurskandidaten zum Börsenkracher. Ein leichter Aufschwung, eine millionenschwere Kampagne, ein neues Etikett. Infineon, ein reiner Kunstname, eine Worthülle, zusammengesetzt aus "infinity" - Unendlichkeit - und "neon" - Licht.

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LUTZ WESSEL:

(Werbeagentur Walter J. Thompson)

"In erster Linie suggeriert Infineon oder infinity, Zukunft, Unendlichkeit, wie schon gesagt, einen technologischen Aspekt, und das ist relativ erfolgreich gewesen. Das hat wunderbar auch funktioniert, da das natürlich eine große Sorge ist der potentiellen Anleger, dass diese Firma vielleicht in einem Jahr gar nicht mehr dauerhaft da ist oder vielleicht schlechte Zahlen hinlegt."

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RUDOLF HICKEL:

(Universität Bremen)

"Das ist ein faszinierender Coup, das ist ein Spektakel, das da stattgefunden hat, das man eigentlich ökonomisch rational überhaupt nicht mehr richtig erklären kann. Wir sind zur Zeit in einer dramatisch-hysterischen Situation. Jeder glaubt, bei diesem Kasino-Spiel nur gewinnen zu können. Und das kam zusammen, und da ist die Aktie völlig jenseits ihrer ökonomischen realen Basis nach oben getrieben worden."

KOMMENTAR:

Egal, Hauptsache dabei sein und Kursgewinne abkassieren. Doch nicht jeder wird so einfach Infineon-Aktionär.

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BANKANGESTELLTER:

"Es tut mir leid, das hat nicht geklappt."

KUNDE:

"Keine Zuteilung?"

BANKANGESTELLTER:

"Haben auch nicht viele gekriegt."

KOMMENTAR:

Schlechte Nachrichten im Minutentakt. Ribnitz-Dammgarten, die Kleinstadt der enttäuschten Möchte-gern-Aktionäre. Um jetzt noch dabei zu sein, gibt es nur noch einen Weg: Kaufen, koste es, was es wolle - zum völlig überhöhten Preis.

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BANKANGESTELLTER:

"Ja, die Entscheidung müssen Sie selber treffen."

BANKKUNDE:

"Ich persönlich würde hier zustimmen, in der Hoffnung, dass die Aktie noch mehr steigt."

BANKANGESTELLTER:

"Okay, dann können wir das machen."

KOMMENTAR:

In Ribnitz-Dammgarten hatten ungewöhnlich viele auf Infineon gesetzt, auf das große Geld: Rentner, Bäcker, Schüler. Es schien eine sichere Sache, kinderleicht wie in der Werbung, besser als Lotto. Doch hier landen wieder mal die meisten auf der Verliererseite. Auch die 72-jährige Maria Petersen ist seit kurzem unter die Zocker gegangen. 100 Infineon-Aktien hatte sie gezeichnet, wollte ihre Rente mit einer ordentlichen Rendite aufbessern. Doch ihr Depot bleibt leer. Sie ist verbittert, immer das gleiche Spiel.

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MARIA PETERSEN:

(Rentnerin)

"Finde ich nicht gerecht. Also ich habe heute aus den Gesprächen im ntv gehört, dass eben sehr viele Kleinanleger nicht berücksichtigt worden sind, aber die Großen, die haben wieder ganz schön eingesackt."

RUDOLF HICKEL:

(Universität Bremen)

"Der erste große Gewinner ist die Siemens AG selber, die hat ein dramatisch-faszinierendes Management hingelegt. Sie hat im Grunde genommen einen verlustreichen Betrieb outgesourced. Der ist dann an die Börse geführt worden. Da sind diese bekannten Riesen-Kursgewinne eingefahren worden. Und Siemens ist mit über 70 Prozent beteiligt an diesem Aktienpaket, hat auch noch Verbindung über die Patentrechte. Und insgesamt kann man sagen, dass es Siemens gelungen ist, sozusagen einen verborgenen Schatz, der nach außen eigentlich auch verlustreich ausgesehen hat, den sozusagen ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, ist der ganz, ganz große Gewinner und Profiteur."

KOMMENTAR:

Denn vor dem Börsengang hatte Infineon einen Wert von rund 44 Milliarden Mark. Weniger als ein Drittel, 12 Milliarden, gab der Konzern als Aktien aus. Und davon wiederum ging nur ein Bruchteil an Privatangeler. Keine Spur von Volksaktie, obwohl die Werbung genau das vermittelt hatte. Den größten Brocken, nämlich Anteile im Wert von 32 Milliarden, behält Siemens schön in der Hinterhand. Ein kluger Schachzug, denn ihr Wert verdoppelte sich schon am ersten Börsentag auf 64 Milliarden Mark. Ein spektakulärer Gewinn für Siemens.

Auch die Infineon-Manager wie Schumacher kamen alles andere als zu kurz. Anders als die Kleinaktionäre mussten sie nicht auf eine Zuteilung warten. "Freunde und Familie" heißt das Programm, mit dem sich allein der fünfköpfige Vorstand 250.000 Aktien genehmigte. Das wären am ersten Börsentag satte 20 Millionen Mark Gewinn gewesen.

Und die anderen großen Abkassieren: Deutsche Bank und Goldman Sachs. Sie organisierten den Börsengang und stellten dafür das übliche in Rechnung, vier bis fünf Prozent des Emissionswertes, macht rund 300 Millionen Mark. Und an den Kleinaktionären verdienen Banken dann noch mal extra: allein am ersten Handelstag 40 Millionen nur an Gebühren für Kauf und Verkauf.

Inzwischen lebt eine ganz neue Branche nur vom Börsenboom und heizt ihn weiter an - Direktbanken. Zocken und Spekulieren, Tag und Nacht, per Telefon und Internet. Ein Mausklick, und man ist an der Börse. Eine von ihnen: die Comdirekt-Bank. Allein sie lockt jeden Tag über tausend neue Kunden an. Es gibt keine Beratung, die Telefonleitungen sind oft überlastet. Das Risiko trägt der Kunde. Auch persönliche Katastrophen werden freundlich übermittelt.

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BANKANGESTELLTE:

"Willkommen in der Trade Society, mein Name ist Katrin Jericha.

Hatten Sie das ungefähr überschlagen, weil im Moment steht Ihr Konto mit 67.000 im Minus."

KOMMENTAR:

So schnell konnte man noch nie Geld verlieren. 67.000 Mark mal kurz verspielt. Pech gehabt im Aktienroulett, bei dem die alten Gesetze des Marktes nicht mehr gelten.

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RUDOLF HICKEL:

(Universität Bremen)

"Unsere Gesellschaft basiert ja auf dem Verhältnis von Arbeit, Leistung, Einkommen, und dieses Wertemodell, sozusagen auf der Basis von menschlicher Arbeit Reichtum zu schaffen, das zerfällt, es verliert an Bedeutung durch dieses Spekulantentum. Das halte ich für die gefährlichste Entwicklung, weil allmählich das Fieber so den Eindruck auslöst, ich bräuchte überhaupt nicht mehr zu arbeiten, man kann ja ganz schnell in dem Spielkasino Geld gewinnen."

KOMMENTAR:

Und selbst die Avantgarde der Kapitalismuskritik ist mittlerweile infiziert. Die links-alternative Taz versorgt ihre Leser regelmäßig mit Börsentips, unter der Rubrik "Reich und glücklich". Ethisches Investment, versteht sich, Ökoaktien. Ein Wertewandel, dokumentiert durch die Fachliteratur in der Redaktion.

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HANNES KOCH:

(Die Tageszeitung)

"Die Taz-Leser gehören, glaube ich, nicht zu den größten Zockern an der Börse, aber wir haben in den letzten Jahren, kann man sagen, auch Interesse am Thema Geld entwickelt. Das kommt ganz einfach daher, weil unter den Taz-Lesern vermutlich jetzt einige sind, die auch recht viel Geld besitzen. Sie haben geerbt, also die Erben-Generation ist in der Taz relativ gut vertreten. Also man kann es heute, glaube ich, ganz gut kombinieren - gutes Geld, gutes Gewissen."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 16.03.2000 | 21:00 Uhr

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