Ahnungslose Eltern, überforderte Lehrer - Schulschwänzen ohne Konsequenzen
Anmoderation
CHRISTOPH LÜTGERT:
Schulschwänzen - wer von Ihnen, meine Damen und Herren, hat als Pennäler nicht mal eine Stunde oder vielleicht auch mal einen ganzen Tag im Unterricht gefehlt, unentschuldigt? Wer hat sich nicht schon mal um eine Klassenarbeit gedrückt, weil man von vornherein wusste, dass man sie verhauen würde? Diese vermeintlich lässliche Schülersünde hat sich aber, wie Jochen Graebert zeigt, zu einem Massenphänomen ausgewachsen, zu einem gefährlichen Missstand in einem Land, das sich noch immer für eine Bildungsnation hält.
KOMMENTAR:
Polizeiinspektion Nürnberg, 9 Uhr morgens. Schichtbeginn für Thomas Lindner und Heidrun Rubin. Die Polizeibeamten fahren in die Innenstadt, mit einem ungewöhnlichen Auftrag: In den Video- und Computerabteilungen der Nürnberger Kaufhäuser sollen sie den ganzen Vormittag unauffällig Ausschau halten nach verdächtigen Personen. Meist dauert es nicht lange, dann haben sie gefunden, wonach sie fahnden: Schulschwänzer.
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POLIZEIBEAMTER:
"Schwänzen tut ihr aber nicht?"
SCHÜLER:
"Sicher nicht."
POLIZEIBEAMTER:
"Wir rufen jetzt bei der Schule an und fragen, ob das stimmt. Wenn's so wäre, dass ihr schwänzt, sagt ihr es uns lieber gleich, das ist besser."
KOMMENTAR:
Erst schwindeln sie noch, dann gestehen die beiden Tatverdächtigen: Schüler der Klasse 8b.
Minuten später auf der Wache. Angaben zur Person, Anruf bei Eltern und Schule. Polizeiroutine in Nürnberg, denn hier fahnden die Beamten täglich nach Schulschwänzern.
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MANFRED SCHREINER:
(Schulamtsleiter Nürnberg)
"In der Vergangenheit hat sich gezeigt, hatten wir auch in Nürnberg wie deutschlandweit überhaupt eine stillschweigende Ausschulung. Es gab Schüler, die kamen überhaupt nicht zur Schule, wurden auch von der Schule als Schulschwänzer gar nicht gemeldet. Man war vielleicht sogar froh, wenn die nicht da waren. Und jetzt werden die sozusagen erwischt und werden dorthin gebracht, wohin sie sollen, erstmal in die Schule und dann natürlich zur Jugendhilfe und auch zur Familienhilfe."
KOMMENTAR:
In Bayern haben Schulschwänzer schlechte Karten. Am Schlafittchen, so Innenminister Beckstein, sollen die kleinen Sünder ins Klassenzimmer verbracht werden. Der Ausflug der beiden Blaumacher endet beim Schuldirektor.
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POLIZISTIN:
"Also ich denke, bei den beiden - jetzt auch im Fahrzeug haben wir noch mal mit ihnen gesprochen - ich glaub', die machen es nicht mehr. Also es war sehr unangenehm, auch jetzt in der Schule, weil jetzt es jeder gesehen hat. Es war sehr unangenehm für sie."
KOMMENTAR:
In Hannover haben Hanna und Argira ganz andere Erfahrungen gemacht. Auf der Gesamtschule - da war Hanna gerade 14 - absolvierte sie eine erstaunliche Schwänzkarriere. Monatelang machte sie blau, ihre Eltern blieben ahnungslos.
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HANNA:
"In der 7. Klasse, 8., fing das dann so an, dass man mal einen Tag zu Hause blieb, wenn man keine Lust hatte. Und das fiel dann auch gar nicht weiter auf. Man kam in die Schule wieder, es wurde nach einer Entschuldigung gefragt, einer schriftlichen, von den Eltern. Oh, hab' ich vergessen, bring' ich morgen mit. Ja, ist okay. Und dann war die Sache unter dem Tisch damit."
ARGIRA:
"Bei meiner alten Schule, da hat sich keiner interessiert, wann kommt die, wann geht die, ist uns egal."
HANNA:
Man hatte halt keine Angst davor zu schwänzen, weil es passierte ja nichts. Meine Mutter wusste davon nichts."
ARGIRA:
"Mit 14 habe ich das auch gesagt, die merken gar nichts, kann ich ja einen Tag mehr fehlen. Und der Tag mehr, der wurde dann zum Monat."
HANNA:
"Die Schule hat sich bei meiner Mutter nicht gemeldet, und daher wusste meine Mutter nicht, dass ich schwänze."
KOMMENTAR:
Solche Erfahrungen, so der Verdacht des Kriminologen Christian Pfeiffer, machen Schüler in Norddeutschland viel häufiger als im Süden. Pfeiffer untersucht jetzt erstmals das Schulschwänzen. Die Ergebnisse haben ihn verblüfft.
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CHRISTIAN PFEIFFER:
(Kriminologe Hannover)
"Wir wollten eigentlich Jugendgewalt erforschen und haben in den Klassen bestimmte Vermutungen gehabt, wieviel Schüler anwesend sein werden, von den Vorberichten der Schulen und waren dann ganz erstaunt, dass es Klassen gab, in denen 30 Prozent fehlten, manchmal nur 10 Prozent, und manchmal waren alle da. Und als wir das dann systematisch auswerteten, stellten wir ein grosses Nord-Süd-Gefälle dieser Abwesenheit fest und merkten: hier sind wir auf ein Problem gestoßen."
KOMMENTAR:
20.000 Schüler in acht Großstädten hat Pfeiffer auf Anwesenheit überprüft. Das Ergebnis: In München waren 6,2 Prozent der Schüler nicht anwesend, in Stuttgart 7,3 Prozent. In Hannover dagegen fehlten schon 12,1 Prozent, in Hamburg sogar 12,5 Prozent der Schüler. Zieht man 3 Prozent Krankenstand ab, so Pfeiffers Arbeitsthese, dann wird in Hamburg dreimal zu viel geschwänzt wie in München.
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CHRISTIAN PFEIFFER:
"Wir gehen davon aus, dass im Norden die sozialen Netzwerke weniger dicht gestrickt sind, dass mehr Armut, mehr Zerfall von Familien eine Rolle spielen könnte. Und dafür haben wir schon objektive Daten. Zum Zweiten könnte es aber auch sein, dass die Schulkultur variiert, dass im Süden mehr Wert auf Anwesenheit gelegt wird, mehr Kontrolle ausgeübt wird."
KOMMENTAR:
Die Insel-Schütt-Hauptschule in Nürnberg, Klasse 10a. Zur ersten Stunde fehlen zwei Schüler unentschuldigt. Der Klassenlehrer lässt sofort bei den Eltern anrufen. Nach drei Tagen gibt es einen blauen Brief, dann einen verschärften Verweis. Später Androhung der Zwangsvorführung und eine Geldbuße, die der Schüler selbst bezahlen soll.
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GEORG SCHULZE:
(Schuldirektor Nürnberg)
"Bezahlt er die nicht oder kann er sie nicht bezahlen, muss er dafür Arbeitsstunden abarbeiten, z. B. bei der Jugendherberge Kartoffeln schälen, z. B. im Altenheim die Gänge putzen, um damit einfach eine Wiedergutmachung seines Fehlverhaltens zu dokumentieren."
KOMMENTAR:
Was an den Schulen in Nürnberg und München anders läuft als in Hamburg oder Hannover, das will Pfeiffer jetzt genauer untersuchen. Besonders krass ist das Nord-Süd-Gefälle an den Hauptschulen:
In München fehlten nur 5,9 Prozent der Schüler, in Stuttgart 7,8 Prozent, in Hannover dagegen 13,5 Prozent, in Hamburg 14 Prozent, und in Kiel waren sogar 15,1 Prozent der Schüler nicht anwesend.
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CHRISTIAN PFEIFFER:
(Kriminologe Hannover)
"Die regionalen Unterschiede zeigen doch auch, dass die Schulen einen großen Spielraum haben, hier Einfluss zu nehmen, und dass sie das auch tun sollten. Wir haben in Vorgesprächen den Eindruck, dass manche Lehrer wirklich resignieren, dass sie manchmal ganz erleichtert sind, wenn ein schwieriger Schüler nicht mehr kommt, weil sie dann einen besseren Unterricht haben. Und andere, die kämpfen richtig, dass jeder auch kommt."
KOMMENTAR:
In Nürnberg kümmern sich Polizei, Schulen und Jugendamt gemeinsam um Schulschwänzer. Das Anti-Schwänz-Programm läuft seit einem Jahr, die Zahl der Dauerschwänzer wurde halbiert, die Ladendiebstähle gingen um 20 Prozent zurück.
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WALTER KIMMELZWINGER:
(Polizeidirektor Nürnberg)
"Wir handeln insgesamt, denke ich, in Bayern mehr nach dem Prinzip: Wehret den Anfängen, um nicht Situationen entstehen zu lassen, die dann später mit einem weitaus höheren Aufwand nur schwer beseitigt werden können."
KOMMENTAR:
Matthias ist zwanzig, seit über drei Jahren sitzt er eine Haftstrafe ab. Als er 13 war, zogen seine Eltern aus Sachsen nach Delmenhorst in Norddeutschland. Den Wechsel hatte Matthias nicht verkraftet, die Mitschüler machten sich über den Ossi lustig. Matthias fing an zu schwänzen.
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MATTHIAS:
"Da ist man anfangs mal eine Stunde weggeblieben, hat geguckt, wie reagiert der Lehrer. Wenn der Lehrer überhaupt nicht reagierte, was meistens so war, dann hat man mal einen ganzen Tag ausprobiert, hat einfach gesagt, einem war schlecht. Dann kamen diese Wissenslücken dazu, und da ist man zu bestimmtem Unterricht von vornherein nicht gegangen, hat dann vielleicht sogar den ganzen Tag gefehlt oder eine ganze Woche."
INTERVIEWER:
"Und hat die Schule reagiert?"
MATTHIAS:
"In Delmenhorst in der Schule war das überhaupt nicht der Fall, und es ist in keiner Weise irgendeine Meldung an die Eltern gegangen"
KOMMENTAR:
Sechs Monate lang ging Matthias nicht mehr zur Schule, die Lehrer unternahmen nichts. Matthias glitt ab, mit kleinen Diebstählen fing es an.
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MATTHIAS:
"Es ist so: wenn man Langeweile hat, kommt man auf blöde Ideen. Vorher ist es mal einen Mercedes-Stern abbrechen, weil man da grad vorbeigegangen ist, und dann fängt man an, klaut sich mal eine Schachtel Zigaretten, wenn man schon raucht, dann ist es ein Walkman oder eine Musik-CD oder auch eine Hose."
KOMMENTAR:
Am Ende wurde Matthias zu dreieinhalb Jahren verurteilt, wegen Drogenhandel. Da war er 17. Am Anfang seiner kriminellen Karriere stand das Schulschwänzen. Kein Einzelfall, sagt der Kriminologe Chrtistian Pfeiffer.
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CHRISTIAN PFEIFFER:
(Kriminologe Hannover)
"Wir haben Hunderte von Jugendstrafgefangenen über ihre Biographie befragt, und dabei kam raus, dass alle, alle, die wir im Gefängnis befragen, massiv geschwänzt haben. Das heißt Gott sei Dank nicht, dass jeder Schwänzer später mal ein Krimineller wird, aber es muss einem zu denken geben, dass Schwänzen für ganz viele der Einstieg in den Ausstieg aus der Gesellschaft ist, dass sie da plötzlich den Kontakt verlieren, auf eine Misserfolgsschiene geraten und dann der Kriminalität näherkommen.
Abmoderation
CHRISTOPH LÜTGERT:
Mir zumindest gibt das zu denken, dieses auffallende Nord-Süd-Gefälle, das bei den eindeutigen Zahlen nicht weggeredet werden kann. Ist in konservativ regierten Ländern mehr Zug drin? Warum schauen Behörden und Lehrer in SPD-geführten Ländern wie Hamburg und Schleswig-Holstein einfach weg, versagen oder resignieren? Warum wollte von denen keiner vor die Kamera und uns das mal erklären? Feigheit oder Apathie? Wenn bis zu 30 Prozent in einer Klasse unentschuldigt fehlen, können auch noch so progressive Lehrer und Bildungspolitiker zu dieser de-facto-Ausschulung nicht einfach schweigen.
