Sendedatum: 16.12.1999 21:00 Uhr

Schock für ahnungslose Eltern - Babys ohne Herz und Hirn beerdigt

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Wenn ein Kind stirbt, ist das für die Eltern wohl das Schlimmste, was passieren kann. Wenn diese dann aber noch erfahren müssen, dass man ihr totes Baby wie ein Stück Vieh ausgenommen, dass man Gehirn, Herz und Leber herausoperiert hat, weil man die Organe für Forschungszwecke brauchte, das ist für viele Trauernde weder zu fassen noch zu verkraften. Erst recht nicht, wenn man sie weder gefragt noch informiert hat. Von ihrem Kind haben sie, ohne es zu wissen, nur die Hülle, den leeren kleinen Körper beerdigt. Das ist in Großbritannien geschehen und sorgt dort für einen Riesenskandal. Bisher haben Mediziner kategorisch ausgeschlossen, dass Ähnliches bei uns auch nur denkbar sein könnte - bis gestern. Denn PANORAMA-Recherchen belegen, dass genau das hier in Deutschland durchaus gängige Praxis ist.

Eva Altmann, Nicola von Hollander und Bettina Scharkus haben das, was sie herausfanden, auch bisher für unmöglich gehalten.

VIDEO: Organentnahme bei toten Babys (9 Min)

KOMMENTAR:

Melinda wurde nur fünf Wochen alt. Sie starb letztes Jahr, Weihnachten, am plötzlichen Kindstod. Eine der häufigsten Todesursachen bei Kleinkindern. Vor einer Woche hatte Melinda Geburtstag. Ihre Mutter hat ihr ein Gedicht geschrieben. Jeden Tag kommt Gülümser Martin hierher, um etwas Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen.

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GÜLÜMSER MARTIN:

(Mutter)

"Melinda ist hier halt zu Hause, und da, wo mein Kind ist, da gehöre ich auch hin. So sehe ich es. Hier kriege ich auch die Ruhe, die ich haben möchte. Hier kann ich weinen, hier kann ich schreien."

KOMMENTAR:

Was die Mutter lange nicht wußte: Melinda lag ohne Herz, ohne Hirn im Grab. Gülümser Martin hatte zugestimmt, an einer Studie teilzunehmen. Dafür sollten Gewebeproben ihrer Tochter entnommen und aufbewahrt werden.

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GÜLÜMSER MARTIN:

"Einverstanden war ich mit Gewebeproben, daß sie sich die Unterlagen von den Ärzten holen, und ich war nicht damit einverstanden, daß sie Organe entnehmen. Das wurde mir auch nicht gesagt."

KOMMENTAR:

Trotzdem: In die Uni-Klinik Münster wurden Herz und Hirn von Melinda geliefert. Denn: Nicht nur Gewebeproben, wie schriftlich vereinbart, werden für die Studie benutzt, sondern komplette Organe. Leiter der Studie ist Professor Bernd Brinkmann. Von Melinda bekam er folgendes:

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PROF. BERND BRINKMANN:

(Studienleiter "Plötzlicher Säuglingstod")

"Das waren einmal Ausschnitte aus allen wichtigen inneren Organen wie Lunge, Leber, Nieren und Milz. Das sind immer so kleine, maximal bohnengroße Ausschnitte, Gewebsausschnitte, und dann zusätzlich das gesamte Gehirn und das gesamte Herz, was in Härtungsflüssigkeit eingelegt war."

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GÜLÜMSER MARTIN:

"Ich war wütend, ich war einfach wütend, und ich habe mich belogen und betrogen gefühlt."

KOMMENTAR:

Melinda war obduziert worden, wie üblich beim plötzlichen Kindstod. Denn die Staatsanwaltschaft muß in solchen Fällen ermitteln. Um eine Straftat auszuschließen, wird dabei die Leiche genau untersucht. Das ist normal. Auch die Studie in Münster untersucht Organe. Sie will den Kindstod erforschen. Was nur keiner weiß: die Wissenschaftler behalten die ganzen Organe, sammeln sie für eine Hirnbank. Aber das würde Professor Brinkmann lieber verschweigen.

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INTERVIEWERIN:

"Sind komplette Gehirne in der Gehirnbank?"

PROF. BERND BRINKMANN:

(Studienleiter "Plötzlicher Säuglingstod")

"Nein, ganz sicherlich nicht. Das geht ja nicht, weil den Gehirnen ja vorher Material entnommen wird. Das ist nur immer der Rest."

INTERVIEWERIN:

"Der Rest ist ungefähr wieviel, in Prozent?"

PROF. BERND BRINKMANN:

"Wenn es das gesamte Gehirn war, was hier einging, dann ist das in der Größenordnung 90, 95 Prozent."

KOMMENTAR:

Nach PANORAMA-Recherchen lagern in Münster 41 Kinderhirne. Die Eltern ahnen davon nichts. Ein klarer Verstoß gegen Recht und Ethik. Das Bundesministerium für Forschung verantwortet diese Studie, fördert sie mit über 7 Millionen Mark. Wie die Wissenschaftler dabei wirklich vorgehen, erfuhr das Ministerium erst letzte Woche.

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INTERVIEWERIN:

"Seit wann wissen Sie das?"

WOLF-MICHAEL CATENHUSEN:

(Staatssekretär Bundesforschingsministerium)

"Informiert durch Sie seit Freitag."

INTERVIEWERIN:

"Das heißt, Sie sind erst im Rahmen unserer Recherchen eigentlich auf diese Missstände gestoßen?"

WOLF-MICHAEL CATENHUSEN:

"Ja, natürlich, das ist so."

KOMMENTAR:

Und im Ministerium bedauert man, daß die trauernden Eltern nicht richtig informiert waren. Die Richtlinien wurden sofort verschärft, als Reaktion auf die PANORAMA-Recherchen. Doch das hilft den Eltern der bereits begrabenen Kinder wenig.

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WOLF-MICHAEL CATENHUSEN:

"Hier haben wir uns dazu entschieden, mit der gebotenen Sensibilität auf die betroffenen Eltern zuzugehen, mit ihnen zu reden und ihnen die Möglichkeit anzubieten, sozusagen selbst über das entnommene Hirn zu verfügen."

KOMMENTAR:

Die Organe sollen die Eltern also wiederbekommen, zur nachträglichen Bestattung. Der Versuch einer Wiedergutmachung.

Wilfried Leiwecke mußte schon einige Kinder bestatten - seine schwierigste Aufgabe, zumal ihm die Kinder oft wie leere Hüllen vorkommen. Als Vorsitzender des Bundes freier Bestatter kennt er das Problem auch von anderen Kollegen.

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WILFRIED LEIWECKE:

(Bund freier Bestatter)

"Das stellt man ganz einfach anhand des Gewichtes fest. Am Kopf ist es sehr einfach festzustellen."

INTERVIEWERIN:

"Der ist dann sehr leicht?"

WILFRIED LEIWECKE:

"Der ist sehr leicht, natürlich. Der Körper insgesamt des Kindes ist sehr leicht."

INTERVIEWERIN:

"In wieviel Prozent der Fälle hatten Sie das Gefühl, daß Organe fehlen, wenn nicht sogar alle lebenswichtigen Organe?"

WILFRIED LEIWECKE:

"Die Hälfte etwa."

INTERVIEWERIN:

"Die Hälfte von Kindern, die Sie beerdigt haben?"

WILFRIED LEIWECKE:

"Die Hälfte."

KOMMENTAR:

Timo Hilbig. Auch aus seinem kleinen Körper wurden Organteile entnommen, 1991. Auch hier der plötzliche Kindstod. Auch ihr Sohn wurde Teil einer Studie, lange bevor die aktuelle in Münster anlief. Die Eltern ahnten nichts, lasen es im Obduktionsprotokoll.

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UTE HILBIG:

(Mutter)

"Was mich sehr erschrocken hat und wo ich, ehrlich gesagt, nicht so ganz viel mit anfangen konnte: Hier steht also - ich will es mal vorlesen: "Zur Sicherung der Diagnose wurden die üblichen Organteile und Körperflüssigkeiten im Rahmen des Forschungsprogramms ‚Plötzlicher Kindstod' entnommen. Also ich habe keine Einwilligung gegeben, irgendwelche Körperteile oder Organteile oder Körperflüssigkeiten zu entnehmen."

KOMMENTAR:

Die Vorstellung, daß Teile von Timo zu wissenschaftlichen Zwecken benutzt wurden, ist der Mutter unerträglich.

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UTE HILBIG:

"Also ich darf mir, ehrlich gesagt, gar nicht vorstellen, was entnommen wurde. Das wäre also für mich ....."

KOMMENTAR:

Weitersprechen fällt zu schwer bei dieser Vorstellung.

Doch unabhängig von Studien: Um den plötzlichen Säuglingstod festzustellen, muß obduziert werden. Oft sind ausgiebige Untersuchungen am Hirn notwendig, weit über den Beerdigungszeitpunkt hinaus. Die Mediziner behalten oft die Organe. Die Konsequenz: Die Leichen werden ohne Hirn beerdigt - und das seit vielen Jahren.

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PROF. KLAUS-STEFFEN SATERNUS:

(Institut für Rechtsmedizin Göttingen)

"Also bis vor etwa sechs, sieben Jahren haben wir grundsätzlich neuropathologisch untersucht."

INTERVIEWERIN:

"Das heißt, Sie haben das Hirn über die Beerdigung hinaus von Kindern einbehalten, ohne daß Sie die Eltern informiert haben?"

PROF. KLAUS-STEFFEN SATERNUS:

"Ja, das ist richtig."

KOMMENTAR:

Der Direktor der Göttinger Rechtsmedizin hat in Gesprächen gemerkt, wie belastend das für die Eltern war. Er bietet ihnen inzwischen an, die Organe nachzubestatten. Andere Institute behalten immer noch die Babyhirne, ohne zu fragen. Zum Beispiel in Dortmund.

Natalie Schwaiger. Ein halber Jahr hat sie gelebt - wieder der plötzliche Kindstod. Ihr Hirn liegt noch immer bei der Rechtsmedizin München. Die gibt es nicht her. Dabei waren die Ermittlungen schon am 19. November 97 abgeschlossen, noch vor der Beerdigung. Die Eltern hätten ihr Kind ganz bestatten können. Das Gefühl bleibt, daß ihrer Kleinen etwas fehlt.

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CHRISTINA SCHWAIGER:

(Mutter)

"Für mich war das Gehirn ein ganz wesentlicher Faktor, weil ich - ich weiß nicht, es geht vielleicht vielen so - eigentlich mein ganzes Sein auch mit meinem Gehirn in Verbindung setze. Also alles, was ich erlebt habe, und Natalie hat uns nur Freude gemacht, also sie hat nie Negatives erlebt, denke ich - alles, was sie so in ihrem kurzen Leben erlebt hatte, war ja nun in meinen Augen dort gespeichert, und das war jetzt nicht mehr bei ihr. Also das war für mich ganz schön heftig in dem Moment."

KOMMENTAR:

Auch wenn ein Kind zum Beispiel im Krankenhaus stirbt, können die Eltern nicht sicher sein, später eine vollständige Leiche zu bestatten. Teilweise werden die Organe einbehalten, nicht nur für die Forschung.

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PROF. KLAUS-STEFFEN SATERNUS:

(Institut für Rechtsmedizin Göttingen)

"Auch für den Unterricht und für die Konferenzen. Das ist üblich in breiten Bereichen in der Pathologie."

INTERVIEWERIN:

"Die Organe zu behalten?"

PROF. KLAUS-STEFFEN SATERNUS:

"Ja, für wöchentliche Klinikkonferenzen."

INTERVIEWERIN:

"Ohne die Leute zu informieren darüber?"

PROF. KLAUS-STEFFEN SATERNUS:

"Das weiß ich nicht genau, ob sie informiert werden. Ich sagte ja, ich glaube eher nein."

KOMMENTAR:

Melinda, Timo und Natalie stehen für viele: Kinder, denen Teile ihres Körpers weggenommen wurden. Die Motive der Ärzte scheinen ehrenwert, aber sie schweigen, wo sie aufklären müssen - warum auch immer.

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PROF. KLAUS-STEFFEN SATERNUS:

"Das Bemühen ist da, den Eltern zu helfen, aber sie damit zu konfrontieren, das ist auch sehr schwierig. Und ihnen bei dieser Aufklärung nicht wehtun zu wollen, das ist schon das, was das Ganze leitet."

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CHRISTINA SCHWAIGER:

(Mutter)

"Ich denke, daß sich niemand anmaßen sollte, zu urteilen, was man betroffenen Eltern zumuten kann. Ich denke, das Schlimmste, was man ihnen zumutet, sind Entscheidungen, die sie nicht selber treffen können."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Positiv stimmt da nur die Reaktion des Bundesministeriums für Forschung und Bildung. Nachdem man dort durch PANORAMA von der ungenehmigten Organentnahme bei toten Babys und Kindern erfahren hatte, wurde nichts beschönigt, kleingeredet oder vertuscht. Das fällt so positiv auf, weil man es von anderen Stellen so gar nicht mehr gewohnt ist.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 16.12.1999 | 21:00 Uhr

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