Sendedatum: 14.01.1999 21:00 Uhr

Korruption und Kungelei - Der Frust im Europa-Parlament

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Panorama sendet diesmal an einem ganz schwarzen Tag für Europa. Nach tagelanger Aufregung und bittersten Szenarien für die Zukunft der Union ist seit heute mittag, kurz nach zwölf, die EU-Welt formal wieder in Ordnung. Der Mißtrauensantrag ist gescheitert. Nun können sich alle wieder der Euro-Euphorie und ihren Geschäften widmen. Um Betrug, Korruption und Mißwirtschaft soll sich jetzt eine Untersuchungskommission kümmern, eine Art Sondereinheit zur Aufklärung der EU-Verbrechen also. Die so rudimentär ausgeprägte demokratische Struktur der Europäischen Union hat sich für die Kommission zumindest offensichtlich bewährt. Im Grunde bleibt alles weitgehend folgenlos und beim alten. Rechtzeitig vor den Europawahlen eine schlechte Nachricht für uns Wähler. Auf welch absurde Weise solche Entscheidungen dort zustande kommen, haben meine Kollegen heute in Straßburg beobachtet.

VIDEO: Korruption und Kungelei im EU-Parlament (7 Min)

KOMMENTAR:

Glückwünsche für den Gewinner. Jaques Santer hat sich durchgesetzt. Der Aufstand der Europa-Abgeordneten gegen die Kommission, er ist in sich zusammengebrochen. Günstlingswirtschaft, Verschwendung und Korruption - die Köpfe der sozialistischen Kommissare Cresson und Marin sollten rollen. Was blieb, ist ein Freispruch erster Klasse. Das klägliche Scheitern der Parlamentarier - die sozialistische Fraktionschefin aus England, Pauline Green, verkauft es als den großen Erfolg.

0-Ton PAULINE GREEN: (Übersetzung)

(Fraktionschefin Sozialisten)

"Das Parlament war nie stärker als heute. Wir haben die größten Reformen der europäischen Kommission erreicht. Wir mußten eine Krise heraufbeschwören, und das war gut für das Parlament."

KOMMENTAR:

Was Pauline Green als Erfolg sieht, für die deutschen Genossen ist es ein Desaster.

0-Ton

DAGMAR ROTH-BEHRENDT:

(Europa-Abgeordnete, SPD)

"Ich hätte mit gewünscht, daß die Kolleginnen und Kollegen ein bißchen mehr Mut bewiesen hätten. Offensichtlich haben sie viel zu viel Angst vor der Dramatik, die passieren könnte. Nichts wäre passiert, es wäre auch kein Chaos entstanden, sondern wir hätten ein klares Zeichen gesetzt, was auch ein Schlußpunkt zu dem gewesen wäre, was wir initiiert haben. Es wäre nötig gewesen, deshalb bin ich enttäuscht, traurig und unzufrieden.

KOMMENTAR:

Zwei Tage vorher. Noch ahnt Dagmar Roth-Behrendt nichts Böses. Voller Hoffnung glaubt sie an die politische Aufrichtigkeit ihrer Fraktion. In greifbarer Nähe scheint die Abrechnung mit der offenbar korrupten Kommission. Die Empörung selbst in den eigenen Reihen über die Santers, Cressons und Marins ist so massiv, daß Parteienstreit und Rücksichtnahme auf die eigenen sozialistischen Kommissare in den Hintergrund zu rücken scheint.

0-Ton

DAGMAR ROTH-BEHRENDT:

(Europa-Abgeordnete, SPD)

"Die Arroganz und Selbstgerechtigkeit, mit der die Kommission sich in den letzten Wochen verhalten hat, hängt mir - Entschuldigung - zum Hals raus. Und an irgendeiner Stelle muß man doch mal einen Schritt machen."

KOMMENTAR:

Auf Krawall gebürstet auch die Konservativen. Reimer Böge, der Landwirt aus Schleswig-Holstein, will Köpfe rollen sehen.

0-Ton

REIMER BÖGE:

(Europa-Abgeordneter, CDU)

"Die beiden besonders betroffenen Kommissare sollten vor der Abstimmung am Donnerstag zurücktreten. Wenn das geklärt ist, brauchen wir kein Mißtrauensvotum. Wenn es aber nicht dazu kommt, dann werden wir in der Tat ein Mißtrauensvotum auf den Weg bringen und dafür stimmen."

KOMMENTAR:

Während bei italienischer Mortadella und Rotwein schon das Ende der Kommission herbeigesehnt wird, wird einen Kilometer weiter das Scheitern des Parlamentsaufstandes vorbereitet. Geheimtreffen im Hilton. Kommissionspräsident Santer im vertraulichen Tête-à-tête mit den europäischen Spitzenpolitikern. Ganz nah dabei auch die Sozialistenchefin Green. Um den Druck zu erhöhen, droht Santer sogar mit seinem Rücktritt.

Am nächsten Tag wird Pauline Green behaupten, nichts von der Ankündigung des Kommissionspräsidenten zu wissen. Frage: Hat Herr Santer gestern nacht mit Rücktritt gedroht?

0-Ton

PAULINE GREEN: (Übersetzung)

"Ich habe keine Ahnung, was Herr Santer vor hat, ich habe nicht mit ihm gesprochen."

KOMMENTAR:

Zur gleichen Zeit bei der Abgeordneten Roth-Behrendt, Hektik im Büro. Sie soll den STERN zurückrufen, leider ist nun gerade die Telefonnummer verschwunden. Das Rücktrittsgerücht ist auch bei ihr angekommen. Die Spannung, sie steigt.

0-Ton

INTERVIEWER:

"Ist das eine Drohung möglicherweise, daß das Parlament einknickt?"

DAGMAR ROTH-BEHRENDT:

"Zugegebenermaßen habe ich das auch sofort gedacht. Ich habe auch gedacht: Was ist es. Wollen sie uns drohen? a) Wollen sie vielleicht sagen: Ach nein, liebe Kommission, bitte bleibt doch; b) Wollen sie zeigen, auch hier wieder selbstherrlich zeigen, daß, wenn überhaupt jemand über ihren Rücktritt entscheidet, sie das selber sind, nicht etwa dieses Parlament - das war mein zweiter Gedanke. Wahrscheinlich ist beides böswillig. Vielleicht wollen sie einfach nur Einsicht zeigen, kann doch auch sein."

KOMMENTAR: Drei Stockwerke höher. Sicherheitskräfte schirmen die Kommissare ab. Die Europaregierung hat sich eingemauert. Die Geheimdiplomatie hat ihre Hochphase. Fragen nach der Zukunft werden mit Schweigen beantwortet. Stumm schreiten sie die Phalanx der Journalisten ab. Ein Interviewversuch mit der deutschen Kommissarin Wulf-Mathies.

0-Ton

INTERVIEWER:

"Was ist denn dran an der Behauptung, daß Herr Santer seinen Rücktritt angeboten hat?"

INGRID WULF-MATHIES:

"Ich spekuliere nicht, das ist Ihre Aufgabe vielleicht."

INTERVIEWER:

"Wann wird es denn heute noch mal zu einer Zusammenkunft kommen?" .....

KOMMENTAR:

Santers Rücktrittsdrohungen zeigen Wirkung. Am Nachmittag kippt die Stimmung im Parlament. Kompromißpapiere machen die Runde. Die Sozialisten taktieren, wollen ihre Kommissare retten. Bei den Konservativen kündigen rund hundert Abgeordnete an, für die Kommission zu stimmen, die Deutschen mit dem Rücken zur Wand.

Landwirt Böge will sich nicht verbiegen lassen. Umfallen wie andere - für ihn kein Thema. Er bleibt dabei, die zwei Kommissare müssen gehen.

0-Ton

INTERVIEWER:

"Also auch notfalls mit fliegenden Fahnen untergehen?"

REIMER BÖGE:

(Europa-Abgeordneter, CDU)

"Ich gehe nicht mit fliegenden Fahnen unter, sondern ich behalte meine Position. Ich will mich auch morgen noch im Spiegel anschauen können."

KOMMENTAR:

Zurück zu den Sozialisten. Den Mann vom STERN hat Dagmar Roth-Behrendt zwar inzwischen getroffen, dafür sind ihr einige Mitstreiter in der eigenen Fraktion abhanden gekommen. Vor allem Spanier, Italiener und Briten wollen sich von den deutschen Genossen nicht ihre Kommissare abschießen lassen. Als SPD-Mitglied gilt man in der sozialistischen Fraktion langsam als Exot.

0-Ton

ADAM J. GORDON: (Übersetzung)

(Europa-Abgeordneter, Labour Party)

"Ich finde das sehr schwierig zu verstehen. Ich habe eine Menge Freunde unter den deutschen Sozialdemokraten, und die waren immer völlig begeistert von der Kommission. Und diese Feindschaft, die jetzt in der letzten Woche hochgekommen ist, das ist alles schon ziemlich merkwürdig."

KOMMENTAR:

Heute mittag. Eine richtig genervte Dagmar Roth-Behrendt auf dem Weg in die Abstimmung. Von dem Elan der letzten zwei Tage ist wenig übrig. Jetzt hofft sie nur noch auf ein bißchen Fairneß.

0-Ton

DAGMAR ROTH-BEHRENDT:

"Ich hoffe, daß es keine Taschenspielertricks heute gibt, mit denen versucht wird, Abstimmungsreihenfolgen zu verändern, Mißtrauensanträge zurückzuziehen."

KOMMENTAR:

Den Mißtrauensantrag zurückziehen, genau diesen Trick wird sie jetzt erleben müsse. Es wird nur der Mißtrauensantrag einer rechten Splitterpartei verhandelt, die sozialistische Fraktionsvorsitzende zieht den eigenen Antrag zurück. Maßlos enttäuscht und völlig frustriert räumt die Europa-Abgeordnete aus Berlin ihren Stuhl.

So treibt man Parlamentarier in die Politikverdrossenheit. Man könne halt aus einem Eselstall keine Rennpferdzucht machen, heißt es später aus den Reihen der SPD. Die Wut entlädt sich im Foyer.

0-Ton

SPD-FRAU:

"Warum, um Himmels willen, kann sie diese Abstimmung nicht einfach laufen lassen, warum nicht. Muß das jetzt auch noch sein! Ich hasse es!"

0-Ton

DAGMAR ROTH-BEHRENDT:

"Es ist natürlich eine Desavouierung und eine Bloßstellung all der Kolleginnen und Kollegen, wie meiner Person zum Beispiel, die den Antrag unterschrieben haben, weil sie ein Mißtrauensvotum haben wollten oder eine Abstimmung zumindest darüber haben wollten. Das macht mich nicht glücklich, das gebe ich gerne zu, ja."

KOMMENTAR:

Die schwer belasteten Kommissare bleiben im Amt. Und Fraktionschefin Pauline Green verkündet, daß dies ein großer Tag für das europäische Parlament gewesen sei.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Der Frust für die Parlamentarier und uns Wähler ist noch nicht zuende. Am 15. März soll ein Bericht über das Ausmaß der Mißwirtschaft und Korruption der EU vorgelegt werden. Wenn die Kommission die darin enthaltenen Vorschläge nicht umsetzt, dann soll es zu einem neuen Mißtrauensantrag kommen. Das pseudo-demokratische Theater ist noch lange nicht zuende.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 14.01.1999 | 21:00 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr