Zur Sache: Inklusion nach Corona - Chance für Teilhabe?
"Wir Familien sind am Limit", beschreibt Antje Hachenberg ihre aktuelle Situation. Sie ist Mutter dreier Kinder, ihr 15-jähriger Sohn Arved hat das Cris-du-chat-Syndrom und braucht Unterstützung im Alltag. Den muss die Mitarbeiterin der Lebenshilfe Pinneberg seit Monaten mit und in ihrer Familie stemmen, zusätzlich zum Job, mit Homeschooling und all den anderen täglichen Aufgaben. Das geht nur, wie sie meint, mit viel Kreativität und Flexibilität.
Neue Wege für mehr Teilhabe
Eltern behinderter Kinder sind aus Hachenbergs Sicht noch viel stärker betroffen von Ausgrenzung und Shutdown, als sie es vorher schon waren. "Für viele ist gar kein Durchatmen mehr möglich. Ende nicht absehbar. Genau deswegen brauchen wir bessere Unterstützung, und genau deswegen sind jetzt dringend neue Wege gefordert, diese Unterstützung zu ermöglichen. Damit wir durchhalten - sozusagen als Familien-systemrelevante Personen", fordert die Koordinatorin des Projektes "Mehr Miteinander!", das die Lebenshilfe Pinneberg initiiert hat.
Ausgrenzung durch Corona
Separierung statt Inklusion - das ertragen Menschen mit Behinderungen seit Monaten. Sie sind Teil der Corona-Risikogruppen, in allen Altersstufen und mit allen Arten von körperlichen oder geistigen Besonderheiten. Förderzentren wurden geschlossen, Werkstätten auf Kurzarbeit umgestellt, Besuchsmöglichkeiten eingeschränkt oder durch Kontaktverbot gänzlich unmöglich. Einrichtungen wie die Vorwerker Diakonie in Lübeck, die Werkstatt am Drachensee in Kiel oder Die Mürwiker in Flensburg öffnen von Montag an zwar nach und nach teilweise ihre Bereiche, aber der Bedarf nach Entlastung und Unterstützung in den Familien ist sehr viel größer.
Erziehung braucht Beziehung
Diesen Bedarf kennt auch Alexander Gantschow aus Plön nur zu gut. Er leitet das Förderzentrum Plön-Lütjenburg, wo gut 160 Schülerinnen und Schüler betreut werden. Sie bekommen in der Regel sonderpädagogische Förderung. Ein Drittel der Kinder wird direkt im Förderzentrum beschult, dort soll es jetzt mit den ohnehin schon kleinen Klassen mit 12 oder 13 Kindern in jeweils zwei Gruppen weitergehen. Aber was ist mit den Inklusionskindern in den Regelschulen? Die vergangenen Wochen waren für alle Beteiligten eine große Herausforderung - und ob die Kinder durch die Übungspakete wirklich lernen konnten, ist völlig offen. Ob in Inklusionsklassen oder im Förderzentrum: "Förderung braucht Nähe und nicht Distanz", sagt der langjährige Pädagoge, "und Erziehung braucht Beziehung". Zumal viele seiner Schüler und Schülerinnen aus Familien kommen, die finanziell, technisch und strukturell nicht gut aufgestellt sind. Schule ist für sie weit mehr als ein Lernort.
Die Familien brauchen eine Perspektive
"Die Zeit wird für die Betroffenen und die sie betreuenden Angehörigen inzwischen sehr lang", beobachtet auch der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Ulrich Hase. "Es fehlen die Beschäftigung und der Kontakt zu den Freunden und Kollegen in der Werkstatt. Sie fühlen sich isoliert und es fehlt das normale Leben. Die Betreuung und Versorgung muss häufig durch die Angehörigen ganztägig geleistet werden. Dies ist für viele inzwischen eine große Belastung", betont er und fordert eine Perspektive für die Betroffenen.
Schrittweise Öffnung erlaubt
Das Land hat mit der Verordnung vom 18. Mai auch den Förderzentren und Behindertenwerkstätten eine gewisse Perspektive für die Öffnung nach Corona gegeben - unter den geltenden Hygiene- und Abstandsvorschriften. Aber noch sind damit viele Fragen verbunden, viele Maßnahmen brauchen eine entsprechende Vorbereitung. Die Institutionen suchen nach individuellen Wegen, da räumliche oder organisatorische Rahmenbedingungen so unterschiedlich sind. Auch das Bildungsministerium tastet sich eher langsam voran, um eine Gefährdung oder Infektionswelle in den Einrichtungen zu vermeiden.
Chance für mehr Teilhabe?
Doch die vergangenen Wochen haben auch gezeigt, "dass unbürokratische und flexible Lösungen gefunden werden, wenn die Not groß ist", sagt Antje Hachenberg. Schulbegleiter waren schon in den Osterferien in den Familien im Einsatz, viele Förderzentren boten eine Notbetreuung - und zwar, wie sie betont, "abhängig vom tatsächlichen Bedarf in Familien, nicht nur für Eltern mit systemrelavanten Berufen". Alexander Gantschow sieht Optionen für individuelle Hilfen, unter anderem die bessere Verfügbarkeit von digitaler Technik, die auch in Förderzentren stärker ausprobiert werden könne.
Wie geht es weiter?
Von der Maskenpflicht über digitale Förderangebote, von Nachbarschaftshilfe bis Kurzzeitpflegeplätze, von mehr Freizeitangeboten bis zu Fundraising-Finanzierung: Wo gibt es inzwischen mehr und bessere Angebote für die Familien? Welche Lehren ziehen Förderzentren, Einrichtungen, Beauftragte oder Behindertenhilfe aus den vergangenen Wochen? Welche vielleicht unbürokratischen Hilfen gibt es, die auch nach Corona fortgesetzt werden könnten? Wo sind Beispiele für eine positive Entwicklung in Teilhabe - und wo liegen die Stolpersteine und Hindernisse für mehr Chancengleichheit der Behinderten?
Darum ging es am Sonntag (24.5.) in der Sendung Zur Sache mit dem Thema "Inklusion nach Corona - Chance für Teilhabe?". Die Sendung wurde moderiert von Rebekka Merholz.
