VIDEO: LAND - Ein Making of | Themenwoche 2021 (18 Min)

"Der ländliche Raum ist auf Wachstum und Ertrag getrimmt"

Stand: 01.11.2021 18:26 Uhr

Der NDR Filmemacher Timo Großpietsch will wissen und uns vor Augen führen, wie sich unsere Kulturräume verändern. Jetzt in LAND.

von Lucas Stratmann

Nach seinem Dokumentarfilm STADT (2015) hat Großpietsch daher seinen dokumentarischen Blick auf den ländlichen Raum fokussiert. In seinem Film LAND offenbart er, wie "durchstrukturiert und auf Wachstum und Ertrag getrimmt" das Land jenseits der Städte ist. Im Interview spricht Großpietsch darüber, was ihn bewegt hat, den Film zu drehen und was er damit bewirken will. Die Musik zu LAND hat wie beim Vorgängerfilm der Jazzpianist Vladislav Sendecki komponiert, der lange Jahre festes Mitglied der NDR Bigband war.

Wer den Titel LAND liest, denkt sicherlich zunächst an einen idyllischen Film, Natur pur. Sie brechen diese Erwartungshaltung. Warum?

Timo Großpietsch © NDR.de
Ursprüngliche ländliche Idylle gibt praktisch kaum noch, hat Timo Großpietsch festgestellt. Es sei alles "durchstrukturiert".

Timo Großpietsch: Die Idylle, gespeist von Werberomantik und glücklichen Kühen, haben wir alle im Kopf. Bevor ich angefangen habe, mich mit dem Thema LAND auseinander zu setzen, habe ich mir sehr viele Facetten des Landlebens angeguckt und mich auf den Raum eingelassen. Erkenntnis: Jenseits von Naturschutzgebieten und idyllischen Gärten ist alles kultiviert, durchstrukturiert und auf Wachstum und Ertrag getrimmt. Das ist Land heute und das ist irritierend.

Und nur Naturschutzgebiete bieten noch so etwas wie Urwald oder wirklich ursprüngliche Natur, die authentisch erlebt werden kann. Wir Menschen haben versucht, die Natur uns untertan zu machen - das anscheinend sehr erfolgreich.

Es gibt bereits Filme, die sich mit dem Thema Landwirtschaft beschäftigen. Warum braucht es nun auch noch LAND?

Großpietsch: Ob es diesen Film braucht, müssen andere entscheiden. Ich glaube, wir müssen immer wieder hingucken, wie sich unsere Kulturräume verändern. Diese Veränderung aufzuzeigen, ist für mich eine der zentralen Aufgaben des Dokumentarfilms, auch wenn es für den Zuschauer an die Schmerzgrenze geht, halte ich es für journalistisch zwingend. Und natürlich gibt es Vorbilder zu diesem Thema. "Unser täglich Brot" ist mir da sehr im Kopf geblieben. Ebenso große Filme, wie "Die Sinfonie der Großstadt", "Koyaanisqatsi" wirken bei mir natürlich nach. Das sind echte Klassiker, vor denen ich mich nur verneigen kann.

Bei LAND, so meine Absicht, verbinden sich, lange, elegische Einstellungen - alle aus einer Zentralperspektive gedreht - und das Sinfonische. Zwei filmische Mittel, die glaube ich nachhaltig wirken, wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer sich darauf einlassen. LAND ist ein Film, der im Besonderen versucht, Bild, Geräusche und Musik zu einer Erzählung ohne weiteren Kommentar zu verbinden. O-Töne, gesetzte Interviews oder gar einem Text mit Sprecher gibt es nicht.

Das ist für Zuschauer*innen eher ungewöhnlich und eine Herausforderung. Es entsteht so die Möglichkeit, eine Erzählung zu erleben, die ihm viel Freiheiten im Kopf lässt, aber auch herausfordernd ist. Die klassische, eingeübte Führung fehlt eben. Nicht alle Bilder sind leicht zu ertragen.

Ich versuche mit LAND, die Empfänger*innen aus der Gleichgültigkeit herauszuholen. Die Fragen zum Thema Nahrungsmittelproduktion müssen wir uns stellen: Wie wollen wir leben? Was wollen wir essen? Dem Thema visuell und musikalisch zu begegnen, ist eine tolle Ergänzung zu den vielen eher journalistischen Arbeiten.

Weitere Informationen
Filmszene aus der Doku "LAND" © NDR

"LAND": Sinfonie einer industrialisierten Landwirtschaft

In der Doku "LAND" entführt uns der Regisseur Timo Großpietsch in eine ländliche Welt fern jeder Landlustromantik. mehr

Stand es von Anfang an fest, wie LAND aussehen soll?

Großpietsch: Nach meinem Vorgängerfilm STADT habe ich natürlich gehofft, irgendwann LAND machen zu dürfen. Bei STADT ging es um das Hamsterrad des Lebens, in dem wir alle stecken. LAND begann mit der Recherche in den Archiven. Was gibt es überhaupt zu diesem großen Thema? Dann habe ich einfach angefangen, eine lange Liste von Wunschdrehorten zu erstellen. Diese wurde immer wieder ergänzt und dann einfach abgearbeitet, um Drehgenehmigungen einzuholen.

Ich musste mich nicht an ein starres Drehbuch halten, sondern wir konnten schauen, was haben wir jetzt? Haben wir genug Tiere? Haben wir genug Landschaft? Haben wir genug Prozesse? Wir hatten einen groben Film im Kopf. Aber die Realität vor Ort ist dann doch immer noch einmal anders; in diesem Fall häufig interessanter als auf dem Papier. Nahezu alle Drehtage konnten wir verwenden und das Material findet sich im Film wieder. Andreas von Huene, mein kongenialer Partner im Schneideraum, musste wenig Material aussortieren. Das Dreh-Schnittverhältnis war sehr effektiv, das ist sehr selten.

Auffallend ist die Symmetrie in den Bildern, wie kam es dazu?

Großpietsch: Dass Landwirtschaft optisch so "zentralperspektivisch" ist, war mir gar nicht so klar. Man ist am Ort und stellt fest: Kilometerlang nichts anderes als gerade Linien. Die Gänge sind symmetrisch, die Felder sind symmetrisch, die Maschinen arbeiten an symmetrischen Orten. Damit war klar, dass hier das Weitwinkel- Objektiv und die Zentralperspektive zum Einsatz kommen würden, um diese Welt realistisch wieder zu geben. Denn diese Orte bekommen die normalen Zuschauerinnen und Zuschauer nicht zu Gesicht. Und genau das sehe ich als meine Aufgabe als Dokumentarfilmer an: eine filmische Sprache finden, die passend erzählt. Mal schauen, wie der Film auf die Zuschauer*innen wirkt.

Konnten Sie nach den Dreharbeiten noch Fleisch essen?

Großpietsch: Ich kann nach so einem Schlachthofdreh trotzdem noch Fleisch essen. Aber natürlich wird man nachdenklich. Ich denke, wir als Verbraucher sollten uns mit der Produktion dessen, was und wie wir essen, auseinandersetzen. Wir sollten zumindest wissen, wie die Lebensmittel hergestellt werden, die wir essen und wie wir so als Konsumenten auch eine radikale Veränderung des ländlichen Raums herbeiführen. Das haben sich ja nicht die Bauern ausgedacht und gesagt: jetzt mal alles auf Masse und Effizienz setzen.

Wir können ja nicht so tun, als würden unsere Äpfel in der ländlichen Idylle wachsen und unsere Kühe ein glückliches Leben führen. Wenn wir etwas verändern wollen, dann müssen wir es sichtbar machen. Und wir müssen dann selbst entscheiden, was und in welchen Mengen wir kaufen, wenn wir etwa an der Fleischtheke stehen. Wir als Verbraucherinnen und Verbraucher können durch unseren Konsum vieles steuern. Lebensmittel sind zu billig und wir schmeißen zu viel weg.

Sie haben bei diesem Film wieder mit Vladyslav Sendecki zusammengearbeitet, warum?

Großpietsch: Er ist ein Virtuose auf seinem Gebiet. Er ist kein normaler Filmkomponist, sondern ein unglaublicher, musikalischer Geschichtenerzähler. Da knallt es dann auch mal zwischen uns. Wir rangeln uns zurecht. Ein wichtiger Prozess, um die richtige gemeinsame Sprache zu finden. Es gibt ja keinen Kommentartext. Geräusche und Musik müssen viel leisten und bekommen viel Raum. Ich glaube, seine Kompositionen sind einzigartig - ein großes Glück, mit ihm arbeiten zu dürfen. Hinzu kommt, dass wir Michel Wähling als Sounddesigner gewinnen konnten. Er hat eine unglaubliche Geräuschkulisse geschaffen und der Musik den richtigen Klang gegeben.

Herr Sendecki, Ihr Soundtrack wirkt ja wie aus einem Science-Fiction Film. Wie kam es dazu?

Sendecki: Ich musste, wie beim Vorgängerfilm STADT, auch hier den Schlüssel zur Erzählung finden. Die Welt von Mensch und Maschine, Natur und Technik. Der Mensch ist voller Widersprüche, genial und dumm, kreiert und zerstört. Und das zeigt dieser Film. Und klar, zu dieser Welt, die Timo Großpietsch da dokumentiert, kann die Musik das Spiel zwischen realer und Science-Fiction Welt wiedergeben oder verdeutlichen, endlose und genial kreative Phantasie und eine grausame Wirklichkeit.

Aber meine Musik lässt bei aller Verrücktheit des Menschen doch immer wieder viel Hoffnung zu, hoffe ich. Wir können uns daran festhalten, wenn auch nur kurz, dann geht es weiter. Das Leben - ein Kommen und Gehen. Das Hauptthema des Films heißt "Father's Land" (es könnte auch "Mother's Land" heißen). Ein Erbe, welches wir Menschen angetreten haben. Wir müssen die Natur und alles "Göttliche" im Menschen erkennen, schützen und schätzen, das wollte ich ausdrücken. Das Schlimmste ist, dass wir am Arsch sind und wir versuchen, es uns noch gemütlich einzurichten - das geht auch von dem Film aus: "Business as ususal" - das letzte Thema - es läuft.

Ihre Musik geht ja fast eine Symbiose mit den Geräuschen ein, oder?

Sendecki: Ja, ich sehe Geräusche als Musik an. Ich interpretiere sie, spiele mit ihnen, flechte sie ein. Die Geräusche haben häufig die gleiche Farbe wie die Musik, und man weiß manchmal gar nicht mehr, was ist Geräusch und was Musik. Die Ebenen wechseln sich ab und erzeugen Klangräume, die diese unglaublichen, vom Menschen geschaffenen Welten lebendig werden lassen. Ich schaffe eine unterbewusste Spannung, eine Vibration, die zum Nachdenken anregt, was wir Menschen hier mit unserem Planeten anstellen. Ich glaube aber an das menschliche Genie und an Großherzigkeit - die Hoffnung.

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Gewächshaus © NDR

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Ein altes Klettergerüst im Grünen. © Photocase Foto: hketch

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Dieses Thema im Programm:

NDR Dokfilm | 10.11.2021 | 00:00 Uhr

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