Stand: 30.01.2015 13:26 Uhr

Krisengeschüttelt - Der NDR in den 1970er-Jahren

Die 70er-Jahre gelten als eine Zeit des permanenten Krisenmanagements. Internationale Weltwirtschaftskrise, steigende Arbeitslosigkeit, Terror der Rote-Armee-Fraktion, Angst vor dem Kalten Krieg, neue Bürgerbewegungen und heftige Anti-Atom-Proteste verunsichern die bundesrepublikanische Gesellschaft. Der NDR ist ein Spiegelbild dieses turbulenten Jahrzehnts: Eine Reihe von Krisen erschüttern den Sender, immer wieder wird heftig um politische Einflussnahme gestritten, während gleichzeitig journalistische und künstlerische Programm-Highlights für Schlagzeilen sorgen. Es sind bewegte Zeiten im Norden.

Der NDR wurde in den 70er-Jahren auf harte Bewährungsproben gestellt. Sein Handlungsspielraum war vielfach eingeengt. Ein grundsätzliches Problem war, dass alle weit reichenden Entscheidungen einem strikten Parteienproporz unterlagen. Doch die beiden großen politischen Lager von SPD und CDU stritten nicht nur, sondern blockierten sich im Verwaltungs- und Rundfunkrat auch gegenseitig. Gegen Ende der 1970er Jahre stand das Schicksal des Senders auf dem Spiel.

Schwierige Intendantenwahl

Gerhard Schröder (Intendant vom 07.11.1961 - 06.11.1973), Aufnahme 1969. © NDR Foto: Annemarie Aldag
Gerhard Schröder - Intendant von 1961 bis 1973.

Die erste große Herausforderung war 1973 die Wahl eines neuen Intendanten. Im November des Jahres lief die Amtszeit des seit 1961 amtierenden Intendanten Gerhard Schröder. Grundsätzlich war Schröder bereit, noch einmal zu kandidieren. Doch die Parteien im NDR Verwaltungsrat standen sich unversöhnlich gegenüber. Die SPD votierte für eine weitere Amtszeit, aber die CDU weigerte sich, Gerhard Schröder wiederzuwählen. Die laut Staatsvertrag erforderliche Zweidrittelmehrheit der Stimmen war nicht in Sicht.

Mehrere Wahlgänge endeten mit einem Patt. In dieser ausweglos erscheinenden und von den Medien heftig kritisierten Situation konnten die Amtsgeschäfte nur interimsweise geführt werden. Dietrich Schwarzkopf, Fernsehprogrammdirektor des NDR, übernahm diese undankbare Aufgabe.

Martin Neuffer (1974 – 1980), Aufnahme 1974
Er wurde 1974 schließlich neuer NDR Intendant: Martin Neuffer.
Endlich eine Lösung

Eine lange Zeit der Kompromisssuche und der Hintergrundgespräche begann. In der nächtlichen Sitzung des Verwaltungsrats vom 17. auf den 18. Februar 1974 kam es schließlich zu einer Entscheidung: Martin Neuffer, bislang Oberstadtdirektor von Hannover und langjähriges Mitglied des Verwaltungsrates, bekam die erforderliche Stimmenmehrheit. Der von der SPD vorgeschlagene Kandidat erhielt auch die Unterstützung der CDU-Mitglieder im Verwaltungsrat, doch die SPD hatte "schwer faßliche" Zugeständnisse machen müssen, wie es im Fachdienst "Kirche und Rundfunk" hieß. Noch stärker als bisher wurden alle leitenden Positionen im NDR entsprechend eines genau festgelegten Parteienproporzes besetzt.

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Neuffer wird NDR Intendant

Die Führungskrise beim NDR ist beendet: Martin Neuffer wird Intendant, zum Stellvertreter wählt der Verwaltungsrat Dietrich Schwarzkopf (Hamburger Abendblatt vom 18.2.1974) Download (91 KB)

Zerreißprobe: Die Personalfragen

Friedrich Wilhelm Räuker (1980 – 1987),  Aufnahme 1975 © NDR Foto: Annemarie Aldag
Friedrich Wilhelm Räuker, Fernsehprogrammdirektor von 1980 bis 1987.

Neue Probleme waren programmiert. Die Geschicke des Senders waren abhängig vom Kräftespiel zwischen CDU und SPD. Wichtige Personal- und Programmentscheidungen wurden zur Zerreißprobe. Denn der Verwaltungsrat wählte nicht nur den Intendanten, er wachte ebenso über die Einhaltung der Programmgrundsätze und war deshalb dem Intendanten gegenüber weisungsberechtigt. Martin Neuffer war in einer schwierigen Lage. Wiederholt blockierte der Verwaltungsrat dessen Vorschläge, wie etwa den zur Neubesetzung des Fernsehprogrammdirektors im Juni 1974. Neuffer hatte drei Kandidaten ins Spiel gebracht, doch die Parteien konnten sich nicht einigen. Hausinterne Konflikte waren die Folge. Erst nach längeren Querelen mit Betriebsrat, Redakteursausschuss und Verwaltungsrat konnte Friedrich-Wilhelm Räuker das Amt übernehmen.

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Verwaltungsrat blockiert Vertragsverlängerung

NDR Intendant Martin Neuffert verlängert Peter Merseburgers Vertrag ohne Zustimmung des Verwaltungsrates. (NDR Pressemitteilung vom 21.10.1974) Download (113 KB)

Ähnlich ging es bei der Vertragsverlängerung von Peter Merseburger als Fernsehchefredakteur und Leiter der Hauptabteilung "Zeitgeschehen/Fernsehen" zu. Neuffer und Schwarzkopf, inzwischen Stellvertretender Intendant, wollten Merseburger halten. Doch die CDU-Mitglieder des Verwaltungsrates erhoben Einspruch und blockierten eine Entscheidung. So verlängerte Neuffer letztlich eigenmächtig Merseburgers Vertrag, was den Fall Anfang 1975 vor Gericht brachte.

Die erste Organklage

Noch weiter spitzte sich die Lage zu, als Neuffer versuchte, Merseburger im Mai 1976 zusätzlich zum Abwesenheitsvertreter von Fernsehprogrammdirektor Räuker zu ernennen. Erneut stellte sich der Verwaltungsrat quer, was Neuffer schließlich zu einem in der Rundfunkgeschichte bislang nicht für möglich gehaltenen Schritt veranlasste: Der Intendant strengte gegen den eigenen Verwaltungsrat eine Organklage vor dem Hamburger Verwaltungsgericht an. Das Gericht sollte die Kompetenzfrage grundsätzlich klären – was es im Sommer 1977 auch tat: "Objektiv pflichtwidrig" hätten sich die CDU-Mitglieder durch ihr strategisches Nichterscheinen im NDR Verwaltungsrat verhalten, weshalb Neuffer bei der Vertragsverlängerung Merseburgers rechtmäßig gehandelt habe. Das Gericht stärkte also die Position des Intendanten. Neuffer hatte sich gegen den Verwaltungsrat durchsetzen können. Peter Merseburger allerdings wechselte nach Washington und arbeitete fortan als Auslandskorrespondent für die ARD.

Die Staatsvertragskrise

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Machtkampf der Parteien um den Norddeutschen Rundfunk

Der zweitgrößten Anstalt der ARD droht eine Spaltung. CDU und SPD blockieren sich gegenseitig. (Süddeutsche Zeitung vom 25.4.1977) Download (118 KB)

Offen zutage trat der Parteienstreit im NDR auch angesichts einer weiteren Krise im Norden des Sendegebiets. Seit Frühjahr 1977 berichtete der NDR verstärkt über die Proteste gegen den Bau eines Kernkraftwerks im schleswig-holsteinischen Brokdorf und über das mitunter harte Vorgehen der Ordnungskräfte. Die CDU-geführte schleswig-holsteinische Landesregierung reagierte verärgert auf die in ihren Augen überzogene Kritik am polizeilichen Vorgehen.

Bald schon ging Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg gegen die Berichterstattung des NDR vor, ebenso wie sein niedersächsischer Amtskollege Ernst Albrecht (CDU). Die beiden Länderchefs waren der Ansicht, der NDR halte den Staatsvertrag nicht ein. Darin war sowohl die Verpflichtung zu politisch ausgewogener als auch zu regionaler Berichterstattung verankert.

Vorwurf "Rotfunk"

Stoltenberg und Albrecht behaupteten, der NDR berichte zu viel über Hamburg und zu wenig aus der Region. Grundsätzlich seien viele Programme des NDR tendenziös und "linkslastig" – allen voran die Berichte über das polizeiliche Vorgehen gegen die Anti-Atomkraftbewegung in Brokdorf. Als Vorwürfe gegen die anhaltende finanzielle Misere im NDR hinzukamen, mündeten die Debatten in einen ernsten Konflikt: Ministerpräsident Stoltenberg kündigte am 8. Juni 1978 den Staatsvertrag über den NDR. Sein Amtskollege in Hannover begrüßte diesen Schritt. Die "Anschlusskündigung" des Landes Niedersachsen folgte, wenn auch erst am 3. Juli 1979. Damit stand der NDR vor dem Aus.

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Martin Neuffer (1974 – 1980), Aufnahme 26.03.1974
6 Min

Martin Neuffer zu den Entwürfen für einen neuen Staatsvertrag

Respekt für die Unabhängigkeit des Rundfunks bei gleichzeitiger verlässlicher Kontrolle und Einordnung, so die Fordergung des "Hamburger Entwurfs". 6 Min

Planspiele über den NDR

Fieberhaft wurden Verhandlungen über einen neuen Staatsvertrag geführt. Die Freie und Hansestadt Hamburg versuchte, den NDR als Drei-Länder-Anstalt zu retten. Niedersachsen und Schleswig-Holstein favorisierten hingegen eine Zwei-Länder-Sendeanstalt ohne Hamburg. Die beiden Landeshauptstädte Kiel und Hannover sollten in diesem Planspiel eigene Funkhäuser mit weitgehender Eigenverantwortung erhalten. Hamburg wehrte sich juristisch und rief das Bundesverwaltungsgericht an. Es entschied am 28. Mai 1980, dass Niedersachsen nicht aus dem bestehenden Staatsvertrag entlassen werden könne. Das Gericht machte seine Entscheidung vor allem an der Tatsache fest, dass Albrechts Kündigung nicht fristgerecht erfolgt war.

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Ernst Albrecht (1977) © dpa
6 Min

Bleibt der NDR eine Drei-Länder-Anstalt?

Schleswig-Holstein hat zwar den Staatsvertrag gekündigt, aber den NDR nicht auflösen können. Ministerpräsident Ernst Albrecht kommentiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. 6 Min

Doch einen Alleingang konnte sich Schleswig-Holstein nicht leisten. Alle Verhandlungspartner mussten zurück an einen Tisch. So kam es im Spätsommer schließlich doch zu einer Einigung aller drei Länder. Ein neuer NDR Staatsvertrag wurde ratifiziert. Er enthielt entscheidende Reformen, um den Parteienproporz künftig einzudämmen sowie Unabhängigkeit und Staatsferne des NDR zu sichern. Ganz offensichtlich hatte man aus den Krisen der letzten Jahre gelernt.

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NDR zerschlagen: Was nun?

Die CDU-Ministerpräsidenten Albrecht und Stoltenberg wollen eine Veränderung der Rundfunklandschaft herbeiführen. (Mitgliederzeitschrift "einigkeit", Januar 1980) Download (765 KB)