Stand: 08.12.2014 16:58 Uhr

Ignorierte Sucht: Alkohol im Alter

von Mareike Burgschat

Jahrelang war der Alkohol für Helga Schmiegel Schlafmittel, Trost, Beruhigung. Und eine große Gefahr. Die 71-jährige ist Alkoholikerin. Als ihr Mann pflegebedürftig wurde, ging es plötzlich nicht mehr ohne Alkohol. "Das ist nicht einfach, über zwei Jahre jemanden zu pflegen. Ihn zu waschen, auf den Pott zu setzen und so weiter. Ich habe das auch nicht als schlimm empfunden, ich habe diesen Mann wirklich geliebt. Für ihn hätte ich alles getan. Aber irgendwie ist man alleine."

VIDEO: Ignorierte Sucht: Alkohol im Alter (7 Min)

Etwa 400.000 Menschen über 60 Jahre alkoholabhängig

Abhängig sein im Alter. Das hat nicht immer nur mit Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit zu tun, sondern ist manchmal auch ein Suchtproblem. Sucht im Alter ist meist unsichtbar. Sie findet hinter verschlossenen Türen statt, wird nicht erkannt oder bagatellisiert. Schätzungen zufolge sind 400.000 Menschen über 60 Jahre alkoholabhängig. Aber die Dunkelziffer dürfte weit höher sein.

"Wir haben keine ganz konkreten Zahlen", sagt Wiebke Schneider von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). "Schätzungsweise sind generell etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung alkoholabhängig. Und so dürfte es auch bei den Senioren aussehen, also bei den Menschen über 65. Wir beobachten allerdings, dass die Problematik des Alkoholkonsums oder übermäßiger Medikamentenkonsum im Alter steigt."

Wiebke Schneider von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS
Laut Wiebke Schneider von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sind etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung alkoholabhängig.

Die Zahl der Krankenhauseinlieferungen wegen Alkoholvergiftung bei über 60-jährigen steigt jedes Jahr. Trotzdem ist die Datenlage dünn. "Wir haben lange Zeit das Problem gehabt und das haben wir noch immer, dass man sehr gerne auf die Jugend guckt. Das ist auch wichtig und richtig. Aber tatsächlich geht der Alkoholkonsum bei Jugendlichen zurück, und wir haben einfach vernachlässigt, auch andere Zielgruppen zu betrachten", so Wiebke Schneider.

Verschiedene Ursachen für die Sucht

Die Ursachen für ein Abgleiten in die Sucht können ganz unterschiedlich sein. "Immer wenn es zu Brüchen in der Biografie kommt, wie dem Eintritt ins Rentenalter, die Auseinandersetzung mit Tod, mit Abschied, mit eigenen Gebrechen, dann ist das ein Risikofaktor. Wenn wir Menschen in höherem Lebensalter tatsächlich auch als eine belastete Gruppe sehen würden, würden wir da auch noch ein bisschen genauer hingucken", sagt Wiebke Schneider. Die sichtbaren Hinweise auf eine Sucht werden ganz oft fälschlicherweise dem Alter zugeschrieben. Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, zitternde Hände, Depressionen, all das können Symptome des Alters sein, aber sind eben auch Symptome der Sucht.

Helga Schmiegel
25 Jahre war Helga Schmiegel trocken. Lange hat sie versucht, den Rückfall zu verheimlichen.

Helga Schmiegel kannte ihre Symptome schon aus ihren jüngeren Jahren. Als junge Frau schluckte sie mit dem Alkohol ihre Probleme in der ersten Ehe herunter. Dann war sie 25 Jahre lang trocken.

Ihren Rückfall verheimlichte sie lange Zeit. "Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich habe immer gedacht, irgendwann schaffst du das. Dann hab ich irgendwann gesagt, wenn Franz beerdigt ist, dann ist es bestimmt vorbei, dann bist du bestimmt bereit, dann schaffst du das. Nix. Der war beerdigt und es hat sich nichts geändert. Im Gegenteil, es wurde nur noch schlimmer", erinnert sich die Seniorin.

Schleppende Umsetzung

Bei jungen Menschen dauert es im Schnitt 20 Jahre, bis sie das erste Mal Hilfe suchen. Trotz Präventions-Kampagnen, Aufklärungsarbeit und Druck aus dem privaten Umfeld. Was ist dann mit den Senioren, die oft alleine leben, nicht mehr arbeiten gehen und die nur schlecht erreicht werden? "Obwohl der Handlungsbedarf wächst, hinken die professionellen und institutionellen Möglichkeiten, sich des Problems anzunehmen, hinterher. Insbesondere im ambulanten Bereich", so Peter Zeman vom Deutschen Institut für Altersforschung. Und auch Wiebke Schneider von der DHS beobachtet: "Insgesamt haben wir heute überhaupt kein Erkenntnisdefizit mehr. Wir wissen wo die Probleme liegen, wir wissen auch wie man sie behandeln kann und wie man ihnen begegnen kann. Aber wir haben ein Umsetzungsdefizit und daran müssen wir arbeiten."

Suchthilfe, Altenhilfe, Pflegeeinrichtungen, Hausärzte und auch Angehörige sind gefordert. Denn auch wenn jeder Alkoholiker selbst den Willen aufbringen muss, von seiner Sucht loszukommen, man kann es ihnen leichter machen, Hilfe zu finden.

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 09.12.2014 | 21:15 Uhr

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