Wandern: Kleiner Kontrapunkt zu den aktuellen Verkehrsdebatten
Die Stadt soll zurückerobert werden
Aber es gibt eine andere Kunst des Gehens, die sich nicht mehr abwendet von der verstädterten Zivilisation. Sie bezieht sich ganz gern auf den Typ des urbanen Flaneurs, auf Charles Baudelaires Pariser Streifzüge und Walter Benjamins Analysen dazu; doch das absichtslose Driften und Beobachten ist nur ein Teil dessen, was heute zum Beispiel, nicht ganz so hübsch, "Fußverkehrsstrategien" heißt. Weitgehend unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit arbeiten am Thema weltweit Stadtplaner, Verkehrsforscher, Ämter, Lobby-Organisationen und Freiraumaktivisten, zu denen man auch die Vertreter der Promenadologie, der Spaziergangswissenschaft zählen kann, einer Gründung des legendären Lucius Burkhardt. Hier wird nicht aus der Stadt geflüchtet, hier soll sie zurückerobert werden.
Die Motorisierung in den Köpfen
Urbanität ohne Fußgänger gibt es nicht. Eine Binsenweisheit, gegen die eine jahrzehntelange Politik der sogenannten verkehrsgerechten Stadt erfolgreich den "Fußverkehr" an den schmalen Rand gedrängt hat. Die Schraube zurückzudrehen, erwies sich schon rein verkehrstechnisch als ein hartes Schwert. Das dauerhaftere Problem ist die Motorisierung in den Köpfen: Sie hat die Vorstellung, Strecken von A nach B über einen Kilometer nur auf den Füßen zu erledigen, für viele denkunmöglich gemacht - lieber treten sie die Kilometer auf einem Stepper im Fitnessstudio herunter und stehen sich an Liften und Haltestellen für zwei Treppen oder eine Busstation die Beine in den Bauch. Um diese mentale Sperre aufzubrechen, gibt es Organisationen wie etwa den Fachverband Fuß e.V. oder den jährlichen weltweiten Kongress Walk 21 - da muss natürlich dann wieder viel geflogen werden; das nächste Treffen findet in Bogotá statt.
Nicht die Bedürfnisse anderer Verkehrsteilnehmer, sondern die materiale Grenze des PKW-Verkehrs, der Dauerstau, hat die stadtplanerischen Ideale auf neue Kurse gebracht. In der Vorzeigestadt Kopenhagen ist die Wirkung klügerer Mobilitätskonzepte schon lange erlebbar, in London kommt man an mittlerweise 1.700 Fußgängerschildern nicht vorbei, die den Weg durch eine "walkable city" weisen. Dort rechnen U-Bahn-Pläne vor, was sich logistisch mehr empfiehlt: umzusteigen oder ein, zwei Stationen zu Fuß zu machen. London ist auch die Stadt, in der viele Banker ihren Anzug im Rucksack verstauen, weil sie per pedes oder Fahrrad zur Arbeit kommen.
Schon 1961 öffnete Jane Jacobs mit ihrem Buch "Tod und Leben großer amerikanischer Städte" ihren Lesern die Augen für den Verfall der Öffentlichkeit in verkehrsdominierten Gegenden. Im Gedenken an sie organisieren Aktivisten in aller Welt sinnlich ertragreiche Spaziergänge durch Stadtviertel unter dem Label "Jane's Walk". Allzu sehr fallen sie nicht auf. Überhaupt bleibt letztlich das intentionale Fußgängertum marginal. Ein Wunder ist das nicht: Kinder lernen die Welt vornehmlich vom Rücksitz eines Autos aus kennen, und eine gute Helikoptermutter setzt sie keinen Meter zu viel vorm Schultor ab. In Filmen gibt es vorwiegend eine Fortbewegungsart: Es wird immerzu vorgefahren, eingestiegen, weggefahren, mühelos geparkt, ausgestiegen. Die kostbare Zeit, die für Fußgänger zu knapp ist, schlucken Fernsehen, soziale Medien und Co. Für die verhunzende Dauerpräsenz des alltäglich zu 94 Prozent ungenutzten Blechs sind die meisten blind: ein sehr großer weißer Elefant im öffentlichen Raum.
"Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft"
Und wir sind noch immer von den Jahrtausenden geprägt, die das Gehen den Besitzlosen überließ, Pferd und Kutsche waren den "happy few" vorbehalten. Schon Louis Sébastien Mercier ärgerte sich im 18. Jahrhundert über die fußgängerverachtende Dominanz der Adligen und Neureichen in ihren Kutschen. Gegen diese Prägung und andere Hindernisse machte sich Johann Gottfried Seume auf die Socken, mit den Worten "Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft". Die das beherzigen, können erleben, wie das Gehen immer müheloser und erfreulicher wird, während die Gedanken purzeln - ein Zustand, den auch Ilya Trojanow in seinem Buch "Welt und Wiese" beschreibt.
Gewiss, da ist die Sache mit dem Feinstaub. Es gibt Leute, die in der Stadt Auto fahren, weil in der Stadt die Luft so schlecht ist. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Andererseits: Wenn körperliche Bewegung sechs bis sieben Lebensjahre mehr einbringt, bleibt, wenn man den Verlust durch Feinstaub abzieht, immer noch einiges übrig.
Eine Wiederholung der Sendung vom 8. April 2018
- Teil 1: Die magischen 10.000 Schritte
- Teil 2: Die Stadt soll zurückerobert werden