Buchcover: Wolodymyr Selenskyj: Für die Ukraine - für die Freiheit © Ullstein Verlag

Wolodymyr Selenskyj: Reden im Zeichen des Krieges

Stand: 01.06.2022 13:02 Uhr

In dem Buch "Für die Ukraine - für die Freiheit" sind die Ansprachen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nachzulesen. Ein Gespräch mit Christoph Steskal vom Ullstein Verlag.

Herr Steskal, wir haben Wolodymyr Selenskyjs Reden oft gesehen - was verändert sich, wenn man das Ganze liest?

Christoph Steskal: Es liefert ein Psychogramm des Angegriffenen. Die erste Rede, die abgedruckt ist, fand einige Tage vor dem Angriff statt - die letzte Rede vom 30. März. Sie können anhand dieser Reden beobachten, wie sich da die Diktion verändert, wie sich die Sprache anders auflädt, vom Diplomatischen zum Konkreten. Der Mann, der aus einem anderen Rahmen stammt, ist plötzlich in einer Kriegssituation, und so gesehen dokumentiert das dieses Unfassbare auf seine Weise.

Von wo nach wo entwickelt er sich in der Diktion?

Steskal: Es zeigt sich ein Präsident im Kriegszustand, ein Militärführer, ein Motivator seiner Bevölkerung - und gleichzeitig sieht man, wie er schaut, anhand seiner Adressaten auch seine Reden zu formulieren. Er spricht mal an konkrete Länder, mal an die große Welt, dann aber wieder an die eigene Bevölkerung und mitunter auch an die russische Bevölkerung. Das wird auch später noch sehr spannend zu sehen sein, wie er da jeweils eigene Worte, eigene Frames findet, um die Leute da zu packen, wo es für sie wichtig ist, oder sie zu motivieren, oder sie zu beruhigen oder sie auch zu etwas aufzufordern - was sich zuvorderst an internationale Staaten richtet.

Buchtipp

Für die Ukraine - für die Freiheit. Reden im Zeichen des Krieges
von Wolodymyr Selenskyj
Verlag: Ullstein
Seiten: 176 Seiten
ISBN: 9783550202421
Preis: 10,99 Euro

Er spricht in Cannes über Francis Ford Coppola und "Apocalypse Now", er spricht bei den Grammys über die Kraft der Musik, vor dem französischen Parlament, appellierte an Verdun. Er scheint, mit großer Empathie die Herzen der Menschen zu treffen, oder?

Steskal: Auf jeden Fall. Bei der Rede an den Bundestag hat er naheliegenderweise an Massaker erinnert, die durch unser deutsches Zutun in der Ukraine stattfanden. Er weiß schon, welche Knöpfe er drücken kann, um die für ihn wichtigen Dinge zu transportieren. Da merkt man durchaus auch, wo er herkommt, eben aus einem medialen Zusammenhang.

Verändert er auch seine Sprache, wenn er zum sich an die russische Bevölkerung wendet oder die Bevölkerung der Ukraine?

Steskal: In beiden Fällen geht es auch um Empathie. Natürlich geht es bei der ukrainischen Bevölkerung einerseits um das Mitleiden, daraus aber hervorgehend gleich das Motivieren: Wir werden es schaffen! An die russische Bevölkerung gerichtet und teilweise auch an die russischen Soldaten gerichtet ist es einerseits der Vorwurf: Was geschieht in eurem Namen? Gleichzeitig aber auch mit der Empathie dahingehend: Ihr seid doch selber Opfer einer fehlgeleiteten Politik, einer verrückten Strategie eines verbrecherischen Planes. Er denkt sich da schon in die Köpfe der jeweiligen Adressaten hinein.

Selenskyj war ja früher Schauspieler und Comedian. Jemand, der aus dieser Ecke kommt, kann gut kommunizieren. Wenn wir auf seine Sprache als Politiker, als Präsident im Krieg schauen: Ist das eine gute politische Kommunikation? Oder hat das auch Anteile dieser alten Seite von ihm?

Steskal: Es ist letztlich schon politische Kommunikation. Man merkt auch, dass er sich mit einer Begrifflichkeit vertraut gemacht hat, die früher sicherlich nicht seine Begrifflichkeit war. Er kann und will nicht aus der Haut desjenigen, der weiß, wie man so etwas publikumsheischend aufbaut. Aber es sind keine Show-Reden. Er weiß, sich in Szene zu setzen, er weiß, die Dinge auch szenisch zu kommunizieren, aber der Impetus ist ganz klar politisch, momentan auch - und das hat er sicherlich selbst vor wenigen Wochen noch nicht geahnt - militärpolitisch. Man geht über die Reden auch mit einer Entwicklung eines Menschen mit.

Was wissen wir über die Hintergründe? Es heißt, er schriebe alle Reden selbst. Aber man kann es nicht ganz glauben, dass er in dieser Schlagzahl auch so genau recherchierte Texte verfasst, oder?

Steskal: Das ist eine berechtigte Frage, die ich Ihnen auch nicht beantworten kann. Es ist wirklich eine enorme Frequenz. Seitdem dieses Buch editorisch abgeschlossen wurde, sind ja noch mal viele Ansprachen hinzugekommen. Ich würde davon ausgehen, so wie es in den allermeisten Fällen ist, dass er Zuarbeiter, Rechercheure hat. Die Fakten, die dort genutzt werden, müssen ja auch Stimmen. Dass er es ganz allein macht, kann ich mir nicht vorstellen - ich weiß es aber nicht. Wie auch immer sie es machen, es wirkt wie aus einem Guss. Die Stimme wirkt schon immer als die gleiche.

Die nächste Frage muss ich in aller Vorsicht stellen: Wenn man überlegt, was ein Weg aus diesem Krieg heraus sein könnte: Könnte es nicht sein, dass dieser ganz vitale, strahlende, emotionale ukrainische Präsident - im großen Gegensatz zu Wladimir Putin - auch ein Problem darstellen könnte im Sinne einer persönlichen Verletzung und eines weiteren Polarisierens der beiden?

Steskal: Das ist vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen. Wobei die persönlichen Verletzungen eher bei demjenigen vorhanden zu sein scheinen, der nicht so viel kommuniziert. Und wenn, dann nur aus seinen Mauern heraus. Bei Selenskyj müsse man sich fragen, ob er denn schon so lange Politiker und Staatslenker ist, dass er in dieser Funktion durch so einen Angriff eine persönliche Verletzung erfahren kann, die ihn dann überreagieren lässt. Ich würde eher nein sagen. Er sieht sich hier quasi in eine Rolle bugsiert, die er sich in dieser Form nicht vorgestellt hat, und nutzt alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Hebel, um Schaden von seinem Land abzuwenden oder diesen zu minimieren.

Das Interview führte Mischa Kreiskott.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 01.06.2022 | 16:45 Uhr

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