"Das dritte Königreich": Grandioser Roman von Karl Ove Knausgård
In "Das dritte Königreich" stellt Karl Ove Knausgård große philosophische Fragen zu Leben und Tod und der Grauzone dazwischen. Ein grandioser, endzeitlich grundierter Roman, der von uns allen erzählt.
Karl Ove Knausgård wurde durch ein sechsbändiges autobiografisches Romanprojekt zum internationalen Star des autofiktionalen Schreibens. Mittlerweile schreibt er so schnell, dass er jedes Jahr ein neues Buch veröffentlicht - ohne qualitative Einbußen, wie Kritiker meinen. Während der Pandemie hat er mit dem Roman "Der Morgenstern" eine neue groß angelegte Reihe begonnen. Es folgte im letzten Jahr in deutscher Übersetzung: "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit". Nun erscheint der dritte Roman der Reihe: "Das dritte Königreich".
Geheimnisse und Wünsche
Seit dem Auftauchen des Morgensterns scheint sich etwas Großes anzubahnen in Norwegen. Menschen sterben plötzlich nicht mehr. "Das dritte Königreich" spielt an denselben Sommertagen wie der erste Band von Karl Ove Knausgårds Romanreihe. Die Figuren mit ihren Geheimnissen sieht man nun aber in einem anderen Licht. Den Architekten Helge belastet das Geheimnis seiner unterlassenen Hilfeleistung. Der Literaturwissenschaftler Arne schreibt heimlich an einem Roman. Seine Frau, die manisch-depressive Künstlerin Tove, sagt ihm nicht, dass sie ihn deshalb liebt, weil er so durchschnittlich ist. Die Pfarrerin Kathrine hält nicht nur ihre Schwangerschaft vor ihrem Partner geheim, sondern stellt auch zu ihrem eigenen Erstaunen fest, dass sie nicht an Gott glaubt.
"Es ist gut, dass wir Geheimnisse und verborgene Seiten haben, auch Wünsche, die wir selbst noch nicht einmal bemerkt haben", findet Karl Ove Knausgård. "Es wäre fast schon ein Albtraum, alles zu wissen. Gott sei dank können wir das nicht und werden das auch nie können. Wir haben nur einen begrenzten Zugriff auf die Welt." Diese erkenntnistheoretische Einsicht hat bei Knausgård formale Folgen: Er lässt nur Ich-Erzählerinnen und Ich-Erzähler sprechen. Die Summe ihrer Perspektiven ist für ihn die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit.
Teufel im Kopf oder in der Welt?
Brillant, wie der Autor, der selbst eine bipolare Partnerin hatte, an der Figur der Tove zeigt, was diese Krankheit bedeutet. Tove sieht den Teufel in verschiedener Gestalt und hört dessen Stimme:
Ich öffnete die Tür und lief hinaus. Wusste nicht, wohin, nur dass ich fort musste. Über den Rasen, den Hang zu den Felsen hinunter.
Aber Tove. Du glaubst doch nicht, dass du vor mir weglaufen kannst?
Du existierst nicht!, rief ich in die Nacht hinaus.
Leseprobe
Nur die Psychose einer kranken Frau? Oder haben sie und auch der Polizist, der in einem Dreifachmord ermittelt, tatsächlich den Leibhaftigen beobachtet?
Karl Ove Knausgård: "Wir haben der Natur den Rücken gekehrt"
Knausgård versteht sich darauf, Spannung zu erzeugen, indem er Zweifel sät - bei den Lesern wie bei seinen Figuren. Die 19-jährige Line weiß nicht, ob sie Valdemar, in den sie verliebt ist, verlassen soll, weil er sie beim Sex mit einem Messer verletzt hat. Valdemar wiederum ist fasziniert von der mittelalterlichen Vorstellung, derzufolge auf das Reich Gottes das Reich Jesu folgt und dann das des Heiligen Geistes.
"Für mich ist das unsere Zeit: die visuelle, ungeerdete Zeit der Bildschirme und Information", sagt Knausgård. "Ich habe das Gefühl, dass der Grund dafür, dass wir immer noch Öl, Benzin und Kohle verbrennen und so die Natur ruinieren, der ist, dass die Natur für uns letztlich nur eine Abbildung ist. Wir sehen die Natur nur auf dem Bildschirm, haben nur einen indirekten Bezug zu ihr. Das ist genau das Gefühl, aus dem heraus ich die 'Morgenstern'-Bücher geschrieben habe: dass wir der Natur den Rücken gekehrt haben."
"Das dritte Königreich": Grandioser Roman
Knausgård hat sich auch in diesem Roman wieder von Ideen treiben lassen und nun mithilfe der Figur eines Neurologen intensiv darüber nachgedacht, was das Bewusstsein ausmacht. Den Lesern erlaubt er sogar einen literarisch spektakulären, natürlich imaginierten Einblick in das Bewusstsein eines Koma-Patienten, der fälschlicherweise als hirntot eingestuft wurde.
In "Das dritte Königreich" stellt Knausgård große philosophische Fragen zu Leben und Tod und der Grauzone dazwischen. Das wirkt bei seinem realistisch beschriebenen Figurenkosmos nie blutleer und macht Lust auf die weiteren Bände der Reihe. Mindestens sieben sollen es insgesamt werden, verrät der Autor. Jeder Band stehe aber auch für sich: "Man muss nicht das ganze verdammte Ding lesen", sagt der Autor selbst.
"Das dritte Königreich" ist ein grandioser, endzeitlich grundierter Roman, der von uns allen erzählt.
Das dritte Königreich
- Seitenzahl:
- 656 Seiten
- Genre:
- Roman
- Gelesen von:
- Wenzel, Tobias
- Zusatzinfo:
- Aus dem Norwegischen von Paul Berf
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87710-5
- Preis:
- 28 €