Stand: 18.02.2016 16:02 Uhr

"Hunger, Prügel, Tod - das ist für mich Auschwitz"

Erna de Vries, Nebenklägerin im Verfahren gegen einen ehemaligen SS-Wachmann. © NDR Foto: Hedwig Ahrens
Erna de Vries ist Nebenklägerin im Prozess gegen den früheren SS-Wachmann Reinhold H.

Die Emsländerin Erna de Vries ist Nebenklägerin im Prozess gegen Reinhold H., einen früheren SS-Wachmann des Konzentrationslagers Auschwitz. Im nordrhein-westfälischen Detmold muss sich der 94-Jährige wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen verantworten. Ihm wird vorgeworfen, die Tötungsmethoden der Nationalsozialisten im KZ gekannt und so unterstützt zu haben. In der Zeit, als H. in Auschwitz gearbeitet haben soll, war Erna de Vries in dem Vernichtungslager inhaftiert, ihre Mutter ist dort umgekommen. "Hunger, Prügel und Tod - das ist für mich Auschwitz", sagt die heute 92-Jährige.

"Berge von Leichen"

Erna de Vries stand zum ersten Mal in ihrem Leben vor Gericht: "92 bin ich alt geworden, ohne jemals vor Gericht zu stehen - und nun auf einmal. Aber ich finde, das ist schon wichtig", sagt sie. Sie will Gerechtigkeit. 1943 ist sie wegen ihres jüdischen Glaubens gemeinsam mit ihrer Mutter nach Auschwitz deportiert worden. Vor Gericht hat die Lathenerin ihre Erlebnisse zu Protokoll gegeben: "Wir mussten zu unserer Arbeit gehen, das war so ein Tümpel. Da mussten wir Schilf rausholen. Und da gingen wir zwischen Krematorium 1 und 2. Und da haben wir 1943 Berge von Leichen gesehen. Da kam man mit dem Verbrennen nicht mehr nach. Wohl mit dem Vergasen, aber mit dem Verbrennen kam man nicht nach."

"Wenn man in Auschwitz war, dann wusste man das"

Der Kriegsüberlebenden Erna de Vries wurde im Konzentrationslager Auschwitz eine Nummer auf den Arm tätowiert. © NDR Foto: Hedwig Ahrens
Erna de Vries hat Auschwitz überlebt.

Während sie von ihren Erfahrungen in Auschwitz berichtete, habe der 94-jährige Angeklagte nach unten geblickt, berichtet de Vries. Sie ist davon überzeugt, dass sich der ehemalige SS-Wachmann schuldig gemacht hat. "Ich sehe, dass er schon sehr bedrückt ist, er schaut niemandem in die Augen", sagt sie. "Wenn man in Auschwitz war, dann wusste man das - das geht gar nicht anders. Er hat vielleicht niemanden erschlagen. Aber er war ein Rädchen im Getriebe."

"Er soll wissen, dass er schuldig ist"

"Wir sind es einfach den Angehörigen und den Opfern selbst schuldig, diese Straftaten auch heute noch zu verfolgen", sagt Oberstaatsanwalt Andreas Brendel. Deshalb sei dieser Prozess 71 Jahre nach Kriegsende notwendig. Bis Ende der Woche sollen weitere Zeitzeugen in dem Detmolder Auschwitz-Prozess gehört werden, insgesamt gibt es 40 Nebenkläger. Das Urteil wird Ende Mai erwartet. "Er soll nicht mehr sitzen, dazu ist es schon zu alt", sagt de Vries. "Aber er soll wissen, dass er schuldig ist. Und ich weiß nicht, ob er da auch nur das Geringste einsieht. Ich weiß es nicht."

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Aktuell | 18.02.2016 | 16:00 Uhr

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