Trotz Kirchenasyl: Behörden schieben russische Familie ab
Niedersachsen hat eine russische Familie abgeschoben, obwohl sie Kirchenasyl hatte. Nach Kritik von Flüchtlingsrat und Kirchenvertretern will Innenministerin Behrens Gespräche zum Umgang mit Kirchenasyl führen.
Mit einem Durchsuchungsbeschluss hatte sich die Polizei am Sonntag Zutritt zur Gemeindehauswohnung verschafft, in der die russische Familie untergebracht war. Das teilte die evangelische St. Michaelisgemeinde in Bienenbüttel (Landkreis Uelzen) am Dienstag mit. Die vierköpfige Familie sei noch in der Nacht nach Barcelona ausgeflogen worden. "Wir sind geschockt vom Vorgehen der Landesaufnahmebehörde", sagte Pastor Tobias Heyden.
Vater und Sohn wurden in den Krieg einberufen
Das russische Ehepaar mit einem erwachsenen Sohn und einer 16-jährigen Tochter wollte nach Spanien reisen. Auf der Durchreise besuchte die Familie im Landkreis Uelzen Verwandte, wie die Kirchengemeinde berichtete - dort erhielten Vater und Sohn den Einberufungsbefehl der russischen Armee. Die beiden wollten aber nicht in den Krieg. Diese Situation habe dazu geführt, dass die Mutter psychisch schwer erkrankte und in Deutschland behandelt werden musste, berichtete Pastor Heyden. Deshalb stellte die Familie hier einen Asylantrag. Der Antrag sei aber mit Hinweis auf das Dublin-Verfahren abgelehnt worden, weil die Familie bereits ein spanisches Visum besaß. Daraufhin habe sie sich an den evangelischen Kirchenkreis gewandt.
Gemeinde: Familie hatte gute Aussicht auf Integration
Der Kirchenkreis habe nach sorgfältiger Prüfung das Kirchenasyl für sinnvoll erachtet, so Heyden. Denn: Zum einen hätten die Ärzte mit Verweis auf den Gesundheitszustand der Mutter von einer Abschiebung dringend abgeraten. Zum anderen sei die Prognose zur Integration der Familie gut gewesen. Vater und Sohn hätten Arbeitsangebote vorweisen können. Die Tochter habe ein Gymnasium in Uelzen besucht.
Landesaufnahmebehörde: Gemeinde hat Vorgaben "willentlich missachtet"
Die Landesaufnahmebehörde (LAB) argumentierte, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe bei der Familie keinen Härtefall festgestellt. Deshalb habe die LAB für das BAMF die Dublin-Überstellung mithilfe der Landespolizei vorgenommen, teilte Sprecherin Hannah Hintze mit. Die Landesregierung stehe zu einer 2015 getroffenen Vereinbarung und respektiere das Kirchenasyl auch weiterhin bis zum Abschluss der jeweiligen Härtefallprüfungen. Nach dieser Vereinbarung hätte die Kirchengemeinde die Familie innerhalb von drei Tagen aus dem Kirchenasyl entlassen sollen, nachdem das BAMF einen Härtefall verneint habe. "Diese Vereinbarung hat die St.-Michaelis-Kirchengemeinde Bienenbüttel im vorliegenden Fall willentlich missachtet", sagte Hintze.
Flüchtlingsrat: Letzte Kirchenasylräumung vor 26 Jahren
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisiert das Vorgehen: Mit der Abschiebung der Familie habe die rot-grüne Landesregierung ein jahrzehntelanges Tabu gebrochen. Dem Flüchtlingsrat zufolge gab es die letzte Kirchenasylräumung mit anschließender Abschiebung in Niedersachsen im Jahr 1998. Danach hätten alle Innenminister des Landes betont, auf Zwangsmaßnahmen gegen Menschen im Kirchenasyl zu verzichten - auch wenn sie das Recht dazu haben. Geschäftsführer Kai Weber sagte, er gehe davon aus, dass nun bewusst eine neue, restriktive Richtung eingeschlagen werde. Auch in anderen Bundesländern habe es in den vergangenen Monaten zum Teil spektakuläre Kirchenasylräumungen gegeben. Es solle offenbar vor allem Härte signalisiert werden, sagte Weber dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das spiegele den Rechtsruck in der innenpolitischen Diskussion wider. Weber kritisierte: "Statt den Rechtsextremen Paroli zu bieten, läuft die Politik ihren Parolen hinterher."
Kritik an der Landesregierung aus den eigenen Reihen
Kritik an dem Vorgehen der Landesregierung wurde selbst in den eigenen Reihen laut, von den Grünen. "Der Bruch des Kirchenasyls ist ein fatales Signal", sagte die Sprecherin für Migration und Geflüchtete der Grünen im Landtag, Djenabou Diallo-Hartmann. Das Kirchenasyl habe als Akt der Humanität eine lange Tradition. "Der Fall Bienenbüttel erschüttert uns", sagte sie. Weil die Mutter psychisch schwer erkrankt sei, "hätte man in diesem Härtefall erst recht das Kirchenasyl unangetastet lassen sollen".
Umgang mit Kirchenasyl: Innenministerin lädt zum Gespräch
Innenministerin Daniela Behrens (SPD) dagegen verteidigte am Mittwoch in einer Stellungnahme das Vorgehen der Behörden. "Der Fall der aus Bienenbüttel nach Spanien überstellten Familie ist menschlich ausgesprochen tragisch und für die Betroffenen sicher hoch belastend", so Behrens. Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jedoch keinen Härtefall erkannt habe, sei die Rückführung "in einem korrekten rechtsstaatlichen Verfahren abgelaufen". Die SPD-Politikerin lud Vertreter der evangelischen Kirche und der Landesaufnahmebehörde für Ende Mai zu einem Gespräch zu sogenannten Härtefällen im Kirchenasyl ein. Die Zahl der Härtefalle, bei denen Kirche und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht übereinkommen, sei stark gestiegen, so Behrens. Bei dem Treffen solle daher offen "unter anderem über das gemeinsame Verständnis von Härtefällen, den Umgang mit Kirchenasyl sowie über die Möglichkeiten der Anrufung der niedersächsischen Härtefallkommission gesprochen werden."
Etwa 780 Menschen haben in Deutschland Kirchenasyl
Nach Angaben des Innenministeriums ist die Zahl der Personen, die sich in Niedersachsen im sogenannten Kirchenasyl aufgehalten haben, zuletzt deutlich gestiegen: von 15 Fällen im Jahr 2022 auf 80 Fälle in 2023. Ein Fall umfasse in der Regel mehrere Personen, so das Ministerium. Die Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" hat derzeit Kenntnis von 594 aktiven Kirchenasylen mit mindestens 780 Personen, darunter etwa 130 Kinder. Im Februar hatte die Polizei das Kirchenasyl eines syrischen Flüchtlings in einer evangelischen Kirchengemeinde in Rheinland-Pfalz beendet. Die Polizei in Schwerin hatte kurz vor Weihnachten ein bestehendes Kirchenasyl in einer evangelischen Gemeinde beendet, um zwei erwachsene Söhne einer sechsköpfigen afghanischen Familie nach Spanien abzuschieben, die Abschiebung scheiterte.