Stand: 02.09.2019 15:00 Uhr

Mehr Auszubildende dank Neustädter Modell

von Ines Burckhardt, NDR Info

Betriebe suchen händeringend Auszubildende. Gleichzeitig verlassen jedes Jahr Zehntausende Jugendliche in Deutschland die Schule ohne Abschluss - oder sie fangen eine Ausbildung an und brechen sie nach einigen Monaten wieder ab. An einer Schule in Neustadt bei Hannover hat man sich vor einigen Jahren gefragt, wie man das ändern kann. Mittlerweile ist daraus ein preisgekröntes Konzept geworden, das Neustädter Modell. Die "NDR Info Perspektiven" stellen es vor.

Mika Höpkin ist Auszubildender bei der Firma Müller Industrie-Elektronik in Neustadt. © NDR Foto: Ines Burckhardt
Mika Höpkin ist froh über seinen Ausbildungsplatz, auch wenn er jetzt deutlich früher aufstehen muss als zu Schulzeiten.

Am Nachmittag wirkt Mika Höpkin schon ziemlich müde - der 16-jährige Auszubildende hat bereits viele Stunden Arbeit hinter sich. "Ich muss früh schlafen gehen, viel früher als während der Schule, weil ich morgens um sechs Uhr hier anfangen muss. Aber das war es wert - keine Schule mehr!" Mika Höpkin ist erst seit wenigen Wochen Auszubildender der Firma Müller Industrie-Elektronik in Neustadt bei Hannover. Heute hat er an einem Widerstandsthermometer gearbeitet, das später die Temperatur in Schiffstanks messen kann. "Das musste ich selber programmieren und zusammenbauen", berichtet er stolz.

Praxisnähe wird großgeschrieben

Im Sommer hat Mika seinen Realschulabschluss an der Gesamtschule gemacht, als Teilnehmer des sogenannten Neustädter Modells. Bei diesem Modell sind die Jugendlichen in den letzten beiden Schuljahren zwei Tage die Woche an der Berufsschule in Neustadt. Dort werden sie für die Ausbildung fit gemacht. Sie lernen Theorie und Praxis in einem Bereich, den sie wählen - zum Beispiel Mechatronik, Einzelhandel oder Körperpflege. So lernen sie bereits während der Schulzeit einiges, was sie später im Betrieb während einer Ausbildung anwenden können.

Weniger Irrtümer in der Berufswahl

Wenn der Chef des Betriebs einverstanden ist, kann die Ausbildung für Absolventen des Neustädter Modells sogar um ein Jahr verkürzt werden. Für Mika Höpkin war hilfreich, "dass ich jetzt zwei Jahre lang schon mit Elektronik gearbeitet habe und mir dadurch zu 100 Prozent sicher war, dass das was für mich ist."

Matthias Müller, Chef der Firma Müller Industrie-Elektronik in Neustadt. © NDR Foto: Ines Burckhardt
Matthias Müller, Chef der Firma Müller Industrie-Elektronik, ist überzeugt, dass das Modell schon früh eine Entscheidungshilfe sein kann.

Auch Mikas Chef, Matthias Müller, ist vom Neustädter Modell überzeugt. In Müllers Firma kommen drei der vier neuen Auszubildenden dieses Jahr aus dem Neustädter Modell. Er bekomme zwar, anders als viele andere Betriebe, genug Bewerbungen auf seine Ausbildungsplätze, aber etwa 50 Prozent der Azubis würden die Ausbildung abbrechen. "Unter den Abbrechern sind natürlich auch Leute, die vielleicht die Leistung nicht bringen können, das ist eine Sache. Die zweite Sache aber ist, dass sie sich getäuscht haben, in welche Richtung sie gehen wollen. Das lässt sich durch das Modell minimieren. Man kriegt so viel eher eine selektive Auswahl von Leuten, die für die Tätigkeit in Frage kommen und Interesse haben."

Vor allem Schüler profitieren

Aber übernehmen die Schulen im Neustädter Modell nicht eine Aufgabe, die eigentlich Betriebe leisten müssten - nämlich die Ausbildung? Anna Goldmann ist Lehrerin für die Hauptschüler und koordiniert das Neustädter Modell. In ihren Augen ist das Projekt nicht nur gut für die Betriebe, sondern vor allem für die Schüler.

Gerade für Hauptschüler sei die praktische Arbeit in der Berufsschule sehr motivierend. Fast alle Jugendlichen an der Gesamtschule Neustadt schafften deshalb mittlerweile einen Schulabschluss. "Auf einmal sind Schüler wieder da, die jahrelang keine Möglichkeit hatten, zu zeigen, was in ihnen steckt. Sie bekommen Selbstbewusstsein und erreichen dann Noten, von denen sie vorher nur geträumt haben. Denn jemand, der vielleicht nicht so gut in Mathe oder Englisch ist, kann ganz fantastisch im Baubereich als Dachdecker tätig sein."

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Bedingt auf andere Städte übertragbar

Für das Neustädter Modell wurde sogar das Niedersächsische Schulgesetz geändert, damit die allgemeinbildende und die berufsbildende Schule in Neustadt eng kooperieren können, Lehrer hin- und herwechseln dürfen und auch die Leistung der Schüler in beiden Schulen für den Abschluss zählt.

In Göttingen wurde das Modell auch getestet, aber wieder eingestellt. Der Grund: Es sei heute einfacher geworden, eine Lehrstelle zu finden. Zudem strebten viele Schüler einen höheren Abschluss an, hätten also kein Interesse an dem Modell. "Vielleicht ist Göttingen ein bisschen zu groß gewesen fürs Neustädter Modell", sagt Lehrerin Anna Goldmann. "Neustadt ist schon eine Stadt, die in sich geschlossen ist. Durch die Standortnähe wollen die Schüler gar nicht so schnell irgendwo anders hin. Die sind gerne in Neustadt. Da liebt man dieses Landleben und es zieht sie nicht sofort in diese weite Welt."

Interesse an Neustädter Modell ist groß

Für die Hauptschüler der Gesamtschule ist das Neustädter Modell in den letzten beiden Schuljahren verpflichtend. Die Realschüler dürfen wählen. Das Interesse sei aber so groß, dass die Schule ein Auswahlverfahren einführen musste, sagt Goldmann. Für die meisten Schüler ist es die erste Bewerbung ihres Lebens - auch dieses Training sei, so Goldmann, ganz im Sinne des Neustädter Modells.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Perspektiven - auf der Suche nach Lösungen | 06.09.2019 | 07:41 Uhr

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