Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann
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AUDIO: NachGedacht: Deutsche Kränkungen - mit Therapievorschlag (4 Min)

NachGedacht: Deutsche Kränkungen - mit Therapievorschlag

Stand: 23.06.2023 10:30 Uhr

Doof, wenn man sich wie der Klassenprimus fühlt und auch ein bisschen so aufführt. Und dann ist Zeugnistag und überall stehen Dreier und Vierer. Was nun? - fragt Ulrich Kühn.

von Ulrich Kühn

In Deutschland klappt gar nichts mehr, oder? Erst kam die Pünktlichkeit abhanden. Dann wurde die Deutsche Bahn zum habituellen Rumpelzugunternehmen. Dann war das deutsche Auto futsch. Betrugsdiesel, durch deutschen Ingenieurssinn ertüftelt, rollten ein letztes Weilchen vorn, heute verbrennen diese Stickoxidkisten bis zum Abschied still vor sich hin.

Gut, ich übertreibe, aber ach, so ist es halt, tempora mutantur, nicht wahr, die Zeiten wandeln sich und wir wandeln uns in ihnen, wie die Bildungsbürger sagten, nur hallo: Deutsche Bürgerbildung, wo, zum Teufel, bist du hin? Die Kleinen können nicht mehr lesen, und wehe, Sie wollen mal Trinkgeld geben: Welche versnobte studentische Work-Life-Balance-Hilfskraft hinter ihrem Barrista-Tresen kann noch im Kopf errechnen, was Sie herausbekommen müssten? "Nur Kartenzahlung", heißt es dann, und es klingt supermodern. In Wahrheit kaschiert es nur die Kopfrechenschwäche.

Avantgarde mit Fax-Gerät

Kein Anlass für Hochmut, ihr Älteren, Corona brachte es an den Tag: Kannst du ein Fax-Gerät bedienen, bist du schon die Avantgarde des deutschen Behördenunwesens. Und ach, die deutsche Sozialdemokratie, und ach, der deutsche Konservatismus, und ach, der deutsche Liberalismus mit seiner großen Geschichte, die kein Mensch mehr kennt: ausgehöhlt, entkernt, verschwunden, man könnte stundenlang weitermachen!

Hamburg im Städte-Ranking auf Abstiegsplatz

Jüngste Hiobsbotschaft: Das Ranking des "Economist" führt keine deutsche Metropole mehr unter den zehn lebenswertesten Städten. Von Hamburg, gemäß der Insassen-Meinung schönste Stadt der Welt, reden wir erst gar nicht. Selbst Frankfurt am Main aber stürzte ab, von Rang sieben auf Rang 17. Leute, das ist ein Abstiegsplatz! Womit wir beim Schlimmsten wären: Der deutsche Fußball, er scheidet dahin. Ausscheiden tut er ja sowieso, das ist weltbekannt: Ein Spiel dauert 90 Minuten, und am Ende verlieren die Deutschen. Ach, es ist ein einziges Elend. Und woran liegt das nun?

Ja, ja, sehet, hei-weh: Aufstieg und Fall des Römischen Reichs! So rufen die letzten Bildungsbürger und finden sich oberschlau: Jede Größe gehet dahin, wenn sie nicht gut gehegt wird. So auch der Stammplatz der Deutschen an der Welttabellenspitze. Und wer ist jetzt schuld daran?

Schuld sind immer die anderen

Die Untergangsapostel, Abteilung rechtskonservativ, rufen: Unser Land wird per Ideologie in den Abgrund geschludert! Von der anderen Abgrunds-Seite tönt es giftig zurück: Ignorante Wohlstandsalte führen uns ins Verderben! Wahlweise sind also die woken Hypermoralischen schuld oder die privilegierten Wachstumsverbrecher, wahlweise die alten weißen Männlichen oder die faulen jungen Klimaklebenden, die heimlich nach Bali fliegen. Jedenfalls immer die anderen. Und was folgt daraus?

Bisherige Lösungen überzeugen nicht. Sie heißen Fritze Merz und lassen polizeiuniformtragende Eisschnellläuferinnen über Abschiebe-Defizite sinnieren. Sie heißen Hansi Flick (derzeit leider selbsterklärend), demnächst vielleicht auch Joschka Fischer oder, wer weiß, sogar Angela Merkel. Kommt doch bestimmt nicht von ungefähr, dass Bayerns Söder nach der missglückten Aiwanger-Challenge die Altkanzlerin mit Bayerns Verdienstorden schmückte! Da soll jemand stillgestellt werden, gegen jeden Anflug eines Gelüsts auf ein mögliches Comeback.

Gruppentherapie im Stadion

Ach, ach. Die Deutschen kämpfen halt furchtbar damit, dass sie Nummer eins sein wollen, es aber gerade so gar nicht sind. Auf keinem Gebiet so recht, von Fußball bis Moral. Diese urdeutsche Kränkung, sie trifft uns alle. Es könnte ein heilsamer Anfang sein, sich das einzugestehen, statt immer nur andere zu beschimpfen. Die schönste Arena für eine solche Gruppentherapie wäre natürlich ein Fußballstadion, in das ein lateinische Vokabeln vor sich hin pfeifender ICE einrollte: pünktlich! Ja, man darf auch Träume haben.

Weitere Informationen
Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht

Unsere Kolumnisten lassen die Woche mit ihren Kulturthemen Revue passieren und erzählen, was sie aufgeregt hat. Persönlich, kritisch und gern auch mit ein wenig Bösartigkeit gespickt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 23.06.2023 | 10:20 Uhr

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