Kriegsreporter Christoph Reuter. © SPIEGEL/Christoph Reuter
Kriegsreporter Christoph Reuter. © SPIEGEL/Christoph Reuter
Kriegsreporter Christoph Reuter. © SPIEGEL/Christoph Reuter
AUDIO: Interview mit Christoph Reuter zur Situation in Afghanistan (23 Min)

Afghanistan - ein Land voller Widersprüche und Ungereimtheiten

Stand: 19.05.2023 23:08 Uhr

Die internationalen Versuche, Afghanistan zu befrieden, sind ein ums andere Mal gescheitert. Seit August 2021 sind dort die Taliban wieder an der Macht. Kriegsreporter Christoph Reuter ist für den "Spiegel" durch das Land gefahren - und hat darüber ein Buch geschrieben: "Wir waren glücklich hier".

von Christoph Heinzle

"Manchmal hörten wir nachts die Goldschakale heulen. Ihre heiseren, hohen Laute klangen wie herangewehtes menschliches Gelächter. Als sei da irgendwo in der Ferne ein ausgelassenes Fest im Gange - in der Wüste von Nimruz im Südwesten, an den verschneiten Berghängen von Nuristan im Nordosten." Zitat aus dem Buch "Wir waren glücklich hier" von Christoph Reuter

Auch wer Afghanistan nicht kennt, hat beim Lesen schnell Bilder im Kopf. Lebendig, farbig und oft sogar witzig beschreibt Christoph Reuter das Land und seine Menschen. Seine Zuneigung ist spürbar, hörbar: "Ich kenne kein Land, in dem einerseits so fiese, verlogene, unfreundliche, gierige Menschen leben, andererseits aber die großmütigsten, großzügigsten, wunderbarsten Menschen, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um mir zu helfen. Die Leute sind dort so extrem. Und die Landschaft, die Topografie sieht einfach so aus, als hätte man die am Computer entworfen - unter Drogen. Grandiose, absolut kahle Felsberge. Dazwischen diese smaragdgrünen Flusstäler, Urwälder im Osten und viele Dörfer, die noch so aussehen wie auf den wenigen historischen Aufnahmen von 1890."

Immer wieder reist Christoph Reuter nach Afghanistan

Das deutsche Publikum kennt Christoph Reuter als Kriegsreporter von "Stern" und "Spiegel". Bekannt wurde er vor allem durch seine Reportagen aus Syrien, dem Irak und jüngst aus der Ukraine.

Doch Afghanistan zieht den 55-jährigen Norddeutschen, der 1968 in Sande im Landkreis Friesland zur Welt kam, seit über zwei Jahrzehnten immer wieder magisch an. Auch das Afghanistan nach der erneuten Machtübernahme der Taliban: "Das ist Nordkorea mit Bart und Höflichkeitsanspruch. Der Höflichkeitsanspruch eher für uns, nicht so sehr für die Afghanen."

In seinem Buch "Wir waren glücklich hier" erzählt Reuter von seinen Reisen durch ein Land voller Widersprüche und Ungereimtheiten.

"Wir trafen auf Taliban, die mit flirtendem Lächeln anboten, unser Gepäck zu tragen. Andere schlugen auf uns ein und drohten mit Erschießung, sollten wir Bilder von ihnen veröffentlichen. Lokale Kommandeure hielten uns immer wieder stundenlang fest, schlicht, weil sie es konnten. Lauter widersprüchliche Facetten, aber gemeinsam ergaben sie ein Abbild der Realität." Zitat aus dem Buch "Wir waren glücklich hier" von Christoph Reuter

 

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Freude und Erleichterung hier, Unsicherheit und Ratlosigkeit dort

Christoph Reuter bereist Gebiete, die zuvor jahrelang für ausländische Journalisten unzugänglich waren - umkämpft, zu gefährlich. Der "Spiegel"-Reporter erlebt die Erleichterung über den Frieden, der nun fast überall eingekehrt ist, und die Freude über den Abzug der Ausländer.

Sichtbar wird aber auch eine große Unsicherheit und Ratlosigkeit: Wir kann es weitergehen unter einem Regime, das vom Ausland nicht anerkannt und kaum unterstützt wird? Mit welcher Härte werden die islamistischen Führer in Kandahar ihre harschen Dekrete durchsetzen? Eine Härte, die laut Reuter an der Lebenswirklichkeit vieler Taliban vorbeigeht: "Es gibt ganz schön viele Taliban-Anführer in niedrigeren Rängen, die sagen: 'Bildung ist total wichtig. Auch Schulen und Ausbildung für Mädchen und Frauen brauchen wir - woher sollen sonst die Hebammen, Krankenschwestern, Ärztinnen kommen, die wir brauchen? Wir brauchen den Westen, wir brauchen das Geld, sonst sind wir am Arsch. Wir brauchen das alles.' Aber das Wichtigste - und da kommen wir zurück auf den Frieden im Land - ist die Einheit der Bewegung. Damit haben sie gesiegt. Damit üben sie ihre Kontrolle aus. Diese Einheit würden sie zerstören, wenn sie sich jetzt spalten."

Rückblick auf den Beginn der jungen afghanischen Republik

Christoph Reuter blickt auch zurück in seinem Buch - nämlich auf die Hoffnung der Anfangsjahre der jungen afghanischen Republik ab 2002. Auf die Euphorie vor den ersten Wahlen. Doch ab etwa 2006 verschlechterte sich die Lage Jahr für Jahr.

"Schon damals existierte jenes Patt, das sich noch durch ein weiteres Jahrzehnt schleppen würde. Auf sich selbst gestellt, wäre es der von Korruption zerfressenen afghanischen Regierung um Karzai unmöglich, das zerstrittene Land zu regieren. Solange die ausländischen Truppen aber blieben, konnten die Taliban nicht siegen. Gingen die Ausländer, kämen die Taliban wieder. Oder eine Neuauflage des Bürgerkriegs, der ihrem ersten 'Emirat' Mitte der 1990er vorangegangen war. Die Regierenden in Kabul waren von Washington ins Amt gehievt worden, anstatt aus eigener Kraft dorthin zu gelangen. Sie würden bis zuletzt mehr mit internen Machtkämpfen und Selbstbereicherung beschäftigt sein als damit, vernünftig zu regieren." Zitat aus dem Buch "Wir waren glücklich hier" von Christoph Reuter

Auf eigenen Füßen stehen konnte Afghanistan nicht

Die Milliarden der internationalen Gemeinschaft halfen Regierung und Bevölkerung zu überleben, aber auf eigenen Füßen stehen konnte Afghanistan nicht. Der Unmut im Land wuchs und die wiedererstarkten Taliban standen bereit, sich diese Stimmung zunutze zu machen. Die neu aufgebauten afghanischen Sicherheitskräfte und die verstärkten ausländischen Truppen konnten nicht erfolgreich gegenhalten.

"2011 standen mehr als 100.000 US-Soldaten in Afghanistan. Sie konnten fast an jedem Punkt des Landes siegen, aber nicht überall zur selben Zeit. Und vor allem: Ihre sprunghaft gestiegenen Angriffe, die Opfer unter der Zivilbevölkerung, auch ihre Überlegenheit waren purer Treibstoff für den machtvollsten Mythos ihrer Gegner, dass die Amerikaner ungläubige Besatzer seien, die es zu vertreiben gelte. Diese Mischung aus religiöser Überzeugung und nationalem Sentiment verfing perfekt, selbst bei vielen, die sich bessere Lebensbedingungen, Schulen auch für Mädchen und eine gerechte Ordnung durchaus wünschten." Zitat aus dem Buch "Wir waren glücklich hier" von Christoph Reuter

Es ist diese Überzeugung, die trotz aller Differenzen innerhalb der Taliban immer noch Einheit stiftet. Viele Kommandeure und viele Menschen in Afghanistan murren, aber sie meutern nicht.

"Naive" Forderungen und Vorstellungen des Westens

Kriegsreporter Christoph Reuter. © SPIEGEL/Christoph Reuter
Christoph Reuter reiste in den vergangenen Jahren immer wieder nach Afghanistan, um sich ein Bild von Land und Leuten zu machen.

Die internationale Gemeinschaft zeigt sich ratlos. Anerkennung der De-Facto-Regierung kommt für Berlin, Washington oder London nicht infrage - massive Unterstützung ebenso wenig. Stattdessen fordert gerade der Westen eine Kursänderung der Gotteskrieger in Kabul und Kandahar. Doch das verfängt nicht, stellt Christoph Reuter fest: "Das ist eine naive Vorstellung zu glauben, wir geben den Taliban nichts und die sollen gefälligst das machen, was wir wollen. Ob wir die mögen oder nicht: Die Taliban betreiben nun mal leider tatsächlich eine von Werten geleitete Politik. Das sind nicht unsere Werte, aber ich fürchte, sie werden die Einheit und die Kontrolle nicht dafür preisgeben, Vorgaben von uns offiziell zu erfüllen - selbst wenn es etwas ist, was viele der unteren Kommandeure selber wollen. Aber als öffentlicher Kotau des Ganzen wird das nicht funktionieren. Da ist das Risiko sehr groß, dass sie sagen: Und wenn Menschen verhungern, dann ist das halt Gottes Wille."

Millionenfaches menschliches Leid in Afghanistan

Nach Angaben der UNO sind derzeit zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung - 28 Millionen Menschen - auf humanitäre Hilfe angewiesen.

"Den Taliban bleiben zwei Möglichkeiten, dem Druck ihrer zunehmend verzweifelten Bevölkerung zu begegnen: nachgeben, die eigene Ideologie preisgeben zugunsten ausländischer Hilfe. Oder mit aller Härte jeden Dissens unterdrücken, noch viel brutaler agieren, als sie es bislang tun. In der Lage dazu wären sie. Weit und breit existiert kein Gegner in Afghanistan, der es mit ihnen aufnehmen könnte. Von außen intervenieren wird auch niemand mehr. Nur würde es langfristig das Einzige zerstören, was sie dem Land gebracht haben: Frieden, Ruhe. Sie haben den Anfang zu etwas geschaffen, mit dem sie seitdem nichts anzufangen wissen." Zitat aus dem Buch "Wir waren glücklich hier" von Christoph Reuter

Keine Hoffnung auf schnelle Verbesserung der Lage

Hoffnung auf rasche Verbesserungen hat Christoph Reuter nicht. Veränderungen werde es nur langfristig geben, in einigen Jahren. Und diesmal müsse dieser Wandel von innen kommen, so der Reporter: "Ich glaube, der einzige Weg für Afghanistan, sich nachhaltig zu entwickeln, ist, wenn die Afghanen dafür selbst zuständig und verantwortlich sind. Zumal: Einmarschieren wird dort niemand mehr."

Christoph Reuter erklärt, analysiert und reportiert für Afghanistan-Neulinge wie Afghanistan-Kenner gleichermaßen. Er verbindet erzählerisch gekonnt spannende Geschichten mit der wechselvollen Geschichte Afghanistans. Deshalb als Fazit: klare Leseempfehlung!

Wir waren glücklich hier

von Christoph Reuter
Seitenzahl:
336 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
DVA
Veröffentlichungsdatum:
12.04.2023
Bestellnummer:
978-3-421-07005-0
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Buchtipp | 20.05.2023 | 07:48 Uhr

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