Kommentar: Salman Rushdie - sein Schicksal geht uns alle an
Der Messerangriff auf den Schriftsteller Salman Rushdie bewegt und erschüttert Menschen weit über die Kulturwelt hinaus. Denn das Schicksal des Autors der "Satanischen Verse" geht uns alle an.
Ein Kommentar von Ulrich Kühn
Jeder Mensch hat das Recht, sein Leben frei und unversehrt zu führen. Salman Rushdie hat sich entschieden, das seine als Schriftsteller zu verbringen, dafür ist er fantastisch begabt. Seine zweite Begabung ist ähnlich fantastisch, die Begabung zum Mut: Er beweist ihn seit über dreißig Jahren. Dass es nötig wurde, hat er sich nicht ausgesucht. Wer meint, der Autor der "Satanischen Verse" hätte sich durch Blasphemie selbstverschuldet in Gefahr gebracht, hält und weiß nichts von der Kunstfreiheit. Rushdie ist seiner Begabung gefolgt und wurde dafür mit dem Tode bedroht. Das ist sein Schicksal geworden. Es ist zuletzt nicht nur seines.
Ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, auf die Freiheit der Kunst: Schnell waren die Formulierungen zur Hand, als sich die schockierende Nachricht vom Attentat verbreitete. Sie sind alle richtig und sind alle unvollständig.
Rushdie geht alle an
Salman Rushdie ist mehr als eine Symbolfigur im Streit ums Recht, schreiben zu dürfen, wonach dem freien Geist der Sinn steht. Im Schicksal dieses Menschen verdichten sich Linien unseres Lebens. Rushdie geht alle an, das ist der Befund. Er hat sich historisch entwickelt.
1979 - die Welt von heute startet mit einer Häufung von Krisen. Der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, das Schicksal der Boat-People, und im Iran übernimmt Ajatollah Khomeini die Macht. Ganz lange her und doch ganz nah.
1989 - die nächste Zeitenwende, in Deutschland und Europa zumal. Im Iran verhängt der Ajatollah die Fatwa über Salman Rushdie. Man will es nicht fassen: Das soll real sein? Es ist sogar mörderisch real, in der Folge sterben Menschen, Rushdies japanischer Übersetzer wird erstochen, 37 kommen um, als Fanatisierte das Hotel anzünden, in dem sich der türkische Übersetzer aufhält. Tot, weil ein Mann ein Buch schrieb. Der, immerhin, kann sich jahrelang verstecken, überlebt.
Auch das ist lange her und schien zuletzt überwunden. Rushdie bewegte sich vergleichsweise frei in seiner Wahlheimatstadt New York - bis gestern, bis zum Attentat. Der Angreifer, 24 Jahre jung, war 1989 noch nicht geboren. Wir wissen längst nicht alles über seine persönlichen Motive. Die Fatwa aber wurde nie aufgehoben, und eine regierungsnahe iranische Zeitung feiert heute mit "tausend Bravos" den Angreifer als "mutige Person". Mut lässt sich pervertieren. Und historische Linien wirken länger und anders, als wir ahnen und kontrollieren.
Auch die Linien von 2001. Die massenmörderischen Attentate von 9/11 werden zum Katalysator im Prozess der Spaltung der Welt. Rushdies Schicksal ist erneut im Fokus, er sagt: "Lass Angst nicht dein Leben dominieren, auch wenn du dich fürchtest." Was folgt daraus? Die entschlossene Reaktion des Westens war auf lange Sicht vermutlich fatal. Was also folgt aus Rushdies Wahrheit? Die Frage bleibt ewig neu.
Mit Haut und Haar eingesetzt für die Schönheit freien Denkens
Letztes Datum: 2015 - Attentat auf "Charlie Hebdo". Alle zeigen sich einig: "Je suis Charlie". Das öffentliche Gezänk zeichnet längst ein anderes Bild. Im Herbst sagt Rushdie zur Eröffnung der Buchmesse, man brauche die Meinungsfreiheit wie die Luft zum Atmen, es sei nicht nötig, überhaupt darüber zu diskutieren. Nicht lange her - und doch so fern: Wie oft debattieren wir überempfindlich, überaggressiv, tun uns schwer, Meinungen zu ertragen, die keineswegs grundgesetzfeindlich sind, sympathisieren mit Ausschluss.
Salman Rushdie zeigt seit Jahrzehnten, was es heißt, sich mit Haut und Haar für die Schönheit freien Denkens und Fabulierens einzusetzen. 2001 hat er gesagt, für die Redefreiheit und das Recht, kurze Röcke zu tragen, lohne es sich zu sterben. In dieser Überzeugung sitzt er gestern auf dem Podium und wird attackiert. Verdrängtes kehrt wieder. Es kann unerträglich sein, wenn sich das Inakzeptable der Welt im Schicksal eines Menschen verdichtet.
Nicht alle müssen so mutig sein wie Rushdie. Aber niemand muss den Fragen ausweichen, die sein Schicksal aufgibt. Das Attentat auf ihn trifft ins Mark. Wenn die Erschütterung weicht, sollten wir unsere Maßstäbe prüfen. Wir schulden es dem Menschen Rushdie. Und schulden es uns selbst.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.