Hans-Joachim Watzke und Kinder beim Fußball. © dpa
Hans-Joachim Watzke und Kinder beim Fußball. © dpa
Hans-Joachim Watzke und Kinder beim Fußball. © dpa
AUDIO: Sportpsychologin befürwortet DFB-Reform: "Wir vergeuden Entwicklungspotenzial" (2 Min)

Watzke poltert gegen Reform im Jugendfußball - Psychologin widerspricht

Stand: 08.09.2023 12:31 Uhr

Mit viel Polemik hat DFB-Vizepräsident Hans-Joachim Watzke am Donnerstag die geplante Reform im Kinder- und Jugendfußball kritisiert. Sportpsychologin Frauke Wilhelm widerspricht ihm und erklärt, wie viel Leistungsdruck Kinder wirklich brauchen.

von Yasmin von Bargen

Je mehr er in Fahrt kam, desto polemischer wurde Hans-Joachim Watzke am Donnerstag. "Es gab ja die Diskussion, nicht mehr auf Tore zu spielen", sagte der 64-Jährige: "Demnächst spielen wir dann noch ohne Ball. Oder wir machen den eckig, damit er den etwas langsameren Jugendlichen nicht mehr wegläuft."

Watzke, Boss von Borussia Dortmund und DFB-Vizepräsident, ließ keinen Zweifel daran: Die geplante Reform des deutschen Nachwuchsfußballs will er stoppen.

Watzke über Reform: "Grundsätzlich falscher Ansatz"

Worum geht es? Der DFB will ab 2024 neue Spielformen im Nachwuchsbereich umsetzen. Damit soll in den Altersklassen von der U6 bis zur U11 der Leistungsdruck minimiert und die sportliche Entwicklung der Kinder stärker in den Vordergrund rücken, Tabellen etwa sollen nicht geführt werden. Watzke bezeichnete die Änderungen als "unfassbar" sowie "für mich nicht nachvollziehbar" und sprach von einem "grundsätzlich falschen Ansatz".

"Wenn du als Sechs-, Acht- oder Neunjähriger nie das Gefühl hast, was es ist, zu verlieren, dann wirst du auch nie die große Kraft finden, um auch mal zu gewinnen." DFB-Vize Hans-Joachim Watzke

Watzke nahm sich dabei Ottmar Hitzfeld zum Vorbild, von dem der Satz stammt: "Aus dem Schmerz der Niederlage erwächst die Kraft für den nächsten Sieg."

Psychologin widerspricht Watzke: "Reduziert gedacht"

Das stimmt aber nicht, sagt Sportpsychologin Frauke Wilhelm im Gespräch mit dem NDR. "Dieser Aussage liegt eine erwachsene Denkweise zugrunde, aber diese Perspektive lässt sich so einfach nicht auf Kinder übertragen. Außerdem ist es sehr reduziert gedacht: Es unterstellt, dass Menschen nur ihr Bestes geben wollen, um zu gewinnen. Das ist einfach nicht so." Freude an Bewegung oder gemeinsam als Team etwas bewegen zu können, könne ebenfalls sehr motivierend sein.

Wilhelm ist seit über zehn Jahren im Fußball unterwegs, hat am Nachwuchsleistungszentrum von Hannover 96 gearbeitet, DFB-Nachwuchsteams und auch den FC St. Pauli betreut. Sie kritisiert: "Es gibt im Fußball den Fehlglauben, dass die allerwichtigste Motivation sei: 'Ich will unbedingt gewinnen.' Es gibt aber auch andere Dinge, die mich motivieren können."

Kinder entwickeln oft erst spät Ehrgeiz

Viele Topathleten seien sportartübergreifend etwa davon angetrieben, die eigene Leistung verbessern zu wollen. Dies funktioniere auch bei Niederlagen. Bei Kindern, so Wilhelm, stehe zudem oft viele Jahre lang der Spaß im Vordergrund, viele würden erst als Jugendliche Ehrgeiz entwickeln.

Wilhelm arbeitet seit zwei Jahren für das "Internationale Fußballinstitut", ein Kompetenzzentrum für den deutschen Fußball. Seit einem Jahr haben sie ein Zertifikat "Sportpsychologische Kompetenzen für Trainer*innen und Manager*innen". Um die Sichtweise von Kindern mehr in den Fokus zu rücken.

"Wir haben im Moment in Deutschland ein System, das frühzeitig Tabellen hat und Meister ausspielt, weshalb Trainer und Eltern unbedingt gewinnen wollen", sagt Wilhelm. "Das führt dazu, dass die besten Kinder gefördert werden, die schlechteren nicht spielen. Das ist eine Situation, die wir uns gar nicht leisten können, denn durch den ausschließlichen Fokus auf die talentiertesten Fußballer verlieren wir viele Kinder."

"Durch den ausschließlichen Fokus auf die talentiertesten Fußballer verlieren wir viele Kinder."

Und das macht sich längst bemerkbar: Die aktuelle Krise im deutschen Fußball mit den blamablen WM-Auftritten der Männer und Frauen sowie dem EM-Debakel der U21 sollte die Notwendigkeit von Veränderungen eigentlich klar aufzeigen, findet Hannes Wolf, seit August DFB-Direktor für Nachwuchs, Training und Entwicklung.

Wolf kontert Watzkes Halbwissen

"In den neuen Spielformen im Kinder- und Jugendfußball wird Leistung gefordert und durch die unmittelbare Rückmeldung des Gewinnens und Verlierens gefördert", verteidigt Wolf die Reform in einer Pressemitteilung, die der DFB am Donnerstag nach Watzkes Aussagen eilig veröffentlichte. Denn das ist das größte Problem an Watzkes "Kritik": Sie basiert auf Halbwissen. Tore und Siege sollen gar nicht abgeschafft werden, betont Wolf.

Viel mehr werden statt Spieltagen "Festivals" ausgespielt, mit vielen Partien auf mehreren Kleinfeldern im Zwei-gegen-Zwei oder Drei-gegen-Drei auf vier Minitore. Wer ein Spiel gewinnt, rückt ein Feld vor, bei einer Niederlage geht es ein Feld zurück. Eine Tabelle über eine ganze Saison hinweg soll es aber nicht geben.

Musiala: "In England hat man weniger Druck"

England und Belgien hätten mit ähnlichen Formaten sehr gute Erfahrungen gemacht, argumentiert der DFB. Das Paradebeispiel ist Jamal Musiala, der als Ausnahmetalent gefeiert wird, aber gar nicht in Deutschland ausgebildet wurde, sondern in England. Er sagt: "In Deutschland gibt es schon für unter Zehnjährige ein Ligensystem, wohingegen das in England bis zur U18 nicht üblich ist. Da hat man viel weniger Druck und mehr Zeit, sich zu entwickeln, man kann viel freier spielen."

Ein Beispiel, das Musialas Aussage aktuell unterstreicht, ist Elias Saad vom FC St. Pauli. Sein Trainer Fabian Hürzeler glaubt, dass es künftig wieder mehr Spieler wie Saad brauchen werde, die nicht nur in Systemen denken und spielen können, sondern kreativer und freier agieren. "Das hat er sich selbst durch viel Zocken mit Freunden angeeignet."

Weitere Informationen
Jubel bei Elias Saad (r.) vom FC St. Pauli © IMAGO / MIS

Elias Saad: St. Paulis Senkrechtstarter vor dem nächsten Schritt

Der Hamburger ist seit Januar bei den Kiezkickern - und feierte im April sein Zweitligadebüt. Vier Monate später ist er Stamm- und vielleicht bald Nationalspieler. mehr

Auch für Sportpsychologin Frauke Wilhelm ist die Reform richtig. Es sei nötig, "eine Breite von Spielern zu fördern, weil die Erfahrung zeigt, dass manche erst später gut werden. Aus dieser Fülle kann dann auch der deutsche Fußball im Nachwuchsbereich schöpfen, der in den vergangenen Jahren sicherlich auch nicht überragend war."

Weitere Informationen
NDR Info Moderatorin Monika Niedzielski diskutiert mit den Gästen Felix Loch und Tim Stegmann über die Änderung bei den Bundesjugendspielen. © NDR

NDR Info live: Bundesjugendspiele ohne Punkte - eine gute Alternative?

Sollte der Wettbewerb auch in der Grundschule Lust an Leistung fördern oder die reine Freude an Bewegung? Darüber haben Experten bei NDR Info im Livestream diskutiert. mehr

Patrick Ittrich, Schiedsrichter © picture alliance / Avanti-Fotografie Foto: Avanti-Fotografie

Ittrich: Fehlen von Schiedsrichtern im Kinderfußball "grundlegend falsch"

Der Hamburger Bundesliga-Referee hält die geplante Änderung des DFB für einen großen Fehler. Er fordert die Rücknahme. mehr

Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 08.09.2023 | 07:17 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Bundesliga

Mehr Fußball-Meldungen

Hannovers Spieler bejubeln einen Treffer © Imago Images

Hannover 96 II steigt in die Dritte Liga auf und schreibt Geschichte

Die Mannschaft von Trainer Daniel Stendel setzte sich gegen Bayerns Regionalliga-Meister Kickers Würzburg im Elfmeterschießen durch. mehr