Reeperbahn Festival-Blog - Tag 4: Noch einmal alles geben

Stand: 25.09.2022 07:53 Uhr

NDR Kultur Musikjournalist Matthes Köppinghoff ist beim Reeperbahn Festival unterwegs. In seinem Blog erzählt er von seinen Beobachtungen auf St. Pauli. Das graue Wetter an Tag vier gibt ihm ein Hamburg-Gefühl.

von Matthes Köppinghoff

Nach den letzten Tagen bei feinstem Sonnenschein ist der Sonnabend des Reeperbahn Festivals etwas bedeckt. Als Hamburger wird man da zwar nicht sofort nervös, als Festivalblogger packe ich trotzdem sicherheitshalber meine Regenjacke ein. Ich mache mich auf den Weg, am heutigen letzten Tag des Reeperbahn Festivals 2022. Zwar sind alle Beteiligten hier durch die vorangegangenen drei Tage etwas müde und träge, aber heute wird nochmal alles gegeben - schließlich gibt es auch heute wieder viel zu entdecken.

Neue Location: Das Spiegelzelt

Meine heutige erste Station ist wieder das Festival Village auf dem Heiligengeistfeld: Ich möchte mir Scotch & Water im Spiegelzelt anschauen. In dieser neuen Location war ich bisher noch nicht, bin aber sehr erstaunt über die lange Warteschlange (keine Sorge, kein Corona-Nervkram - die Band war nur noch mit dem Soundcheck beschäftigt).

Wenig später, nach dem alle Wartenden reingekommen sind, bestaune ich das wunderbare Spiegelzelt: Hier passen etwa 900 Leute rein, man sieht eigentlich von überall aus alles - eine prima Ergänzung für das Reeperbahn Festival! Das Spiegelzelt ist jetzt bei Scotch & Water aus Hamburg so auch wirklich gut gefüllt. Die Band kenne ich schon seit ihrem Debütalbum "Sirens" von 2021, ihre Songs habe ich so auch schon bei NDR 2 und NDR Blue vorgestellt. Jetzt bin ich gespannt, wie sich das alles wohl live anhören wird.

Scotch & Water aus Hamburg

Sängerin Samira Christmann, Gitarrist Hans Wedemeyer, Bassist Max Quentmeier und Schlagzeuger Lasse Weinbrandt stehen für Indie-Dreampop, der hier und da an Fleetwood Mac und an ein paar schöne Sachen aus den 80er-Jahren erinnert. Samira erzählt, dass sie vor ein paar Jahren noch im St. Pauli Shop "zwischen ein paar T-Shirts" gespielt haben und jetzt unendlich froh sind, dass so viele Leute hier sind.

Für mich ist es ein angenehm fluffiger Start in den letzten Festivaltag; Indie-Rock, Dreampop, in den man sich schön fallen lassen kann, der aber auch nicht zu gefällig ist. Sprich: Ich kann das hier sehr empfehlen. Ich habe mich in den letzten Jahren des "Reisen als Motiv"-Bildes zwar sehr oft bedient, sorry, aber dennoch: Auch Scotch & Water eignen sich ebenfalls prima als Roadmovie-Musik. Auch den anderen Leuten gefällt die Musik der Hamburger und sie bleiben nicht nur hier drinnen, weil es draußen regnet.

Vomit Heat: Ein Vorgeschmack für später

Anschließend mache ich mich auf den Weg zum Kiez, genauer gesagt zum Spielbudenplatz und zum N-JOY Reeperbus. Vor ein paar Tagen hatte ich mich mit Josef von Fluppe noch nach ihrem Konzert im Knust unterhalten, heute spielt er drei Akustiksongs auf der kleinsten Bühne des Festivals. Das bewältigt er ohne den Rest der Band, dennoch weiß er das im Regen stehende Publikum zu überzeugen. Für mich ist es hier nur ein kurzer Aufenthalt, um Zeit und Zeilen zu überbrücken, denn ich schwenke umgehend wieder zurück zum Festival Village - hier möchte ich mir das kurze Set von Vomit Heat anschauen, als kleinen Appetitmacher für die spätere Show heute Abend im Indra.

Hinter dem Namen Vomit Heat steckt der Musiker Nils Herzogenrath aus Essen, der für mich mit "Second Skin" eines meiner Lieblingsalben 2022 veröffentlicht hat - irgendwo zwischen Dreampop, Shoegaze und Postpunk. Hier bei dieser Show scheint etwas mit dem Gesang nicht so recht zu stimmen, dennoch macht das hier Lust auf mehr. Die getragen-experimentelle Musik passt so perfekt zum trüb-nieseligen Wetter heute, über dem darüber auch noch ein paar Möwen ihre Bahnen ziehen. Mehr Hamburg geht an dieser Stelle nicht.

Stella Sommer in der St. Pauli Kirche

Beachpeople auf dem Reeperbahn Festival 2022 © Matthes Köppinghoff/ NDR.de Foto: Matthes Köppinghoff
In das neue Spiegelzelt im Festival Village passen 900 Besucher*innen. Hier stehen Beachpeople auf der Bühne.

Wenig später geht es zurück in die neue Location in diesem Jahr, das Spiegelzelt. Bei meinem zweiten Besuch notiere ich mir intensiver: Das hier ist eine echte Bereicherung für der Reeperbahn Festival. Es sieht hier drinnen auch großartig aus, während aktuell Beachpeople spielen. Auch diese Band finde ich stark - die muss ich mir allerdings vorerst auf meinen Merkzettel schreiben, denn ich mache mich schon auf den Weg zu Stella Sommer. Und somit laufe ich einmal mehr quer durch St. Pauli, mache allerdings am Park Fiction Halt.

Ich glaube, heute habe ich den Platz am Hafen zum ersten Mal überhaupt ganz für mich allein und ich muss an den Kante-Song "Im Inneren der Stadt" denken: "Die Kreuzungen schlafen / kein Laut kommt vom Hafen / der Flugplatz am Friedhof scheint außer Betrieb." Ein paar Minuten schaue ich mir den leeren Basketballplatz mit Blick auf den Hamburger Hafen an, gehe dann aber ein paar Meter weiter in die St. Pauli Kirche. Stella Sommer tritt hier auf - man kennt sie als Teil des Projektes Die Heiterkeit, zwei Soloalben hat sie aber auch schon veröffentlicht. Ihre getragene, ruhige Musik mit Songs wie "A Lover Alone" oder "The Eyes of the Singer" passt hier prima in die Kirche.

Das einzige Mal kein Einlass

Dennoch mache ich mich weiter auf den Weg, um tatsächlich den einzigen Korb während des Reeperbahn Festivals 2022 zu kassieren: Eigentlich möchte ich in der Molotow Skybar Oum Shatt anschauen, aber es ist zu voll. Eigentlich kein Wunder, gefühlt passen in die Skybar etwa 20 Leute - aber nun ja, ansonsten hatte ich ja während der letzten paar Tage durchweg Glück beim Einlass. Kein Vergleich zum letzten Jahr, da will ich nicht meckern.

Daher verlasse ich das Molotow und ziehe über den Beatles-Platz vorbei an der Großen Freiheit in Richtung Davidwache. Ein kurzer Besuch bei Sophia Kennedy im Mojo Club, dann entscheide ich mich, mich voll und ganz auf mein ursprünglich angekündigtes drittes Highlight einzustellen: Vomit Heat im Indra.

In dem Club, in dem die Beatles zum ersten Mal unter eben diesem Namen auftraten, erwarte ich Großes. Und doch bin ich einer von nur etwa 30 Besucher*innen. Ja, es kommen nach und nach mehr Leute - der Sound hier ist auch deutlich besser als heute Nachmittag im Festival Village -, allerdings ist das dann doch nicht die von mir prophezeite Abrissparty. Aber ich kann ja auch nicht immer mit allem Recht haben und schön ist die Show trotzdem. Nach dem Konzert von Vomit Heat ziehe ich für mich den Schlussstrich und ich mache mich auf den Weg ins Homeoffice: Das Reeperbahn Festival 2022 ist vorbei.

Fazit

Im Vergleich zu den vorangegangen, durch die Corona-Pandemie geprägten Ausgaben des Reeperbahn Festivals verlief es in diesem Jahr meiner Einschätzung nach doch recht gut: Die allgemeine Stimmung war deutlich besser. Eigentlich kam ich immer überall rein, kein Vergleich zu den verzweifelten Gesichtern in den Warteschlagen vom letzten Jahr. Es war erfrischend, die Clubs und anderen Locations wieder ohne Kapazitätsbegrenzungen zu betreten. Ich stand nirgendwo lange an, wurde exakt einmal wegen Überfüllung an der Tür abgewiesen - für mich völlig okay.

Ja, es war zwar nicht so viel los wie vergleichsweise 2019, aber: Auch das finde ich völlig in Ordnung. Das Reeperbahn Festival 2022 hatte für mich daher viel von dem, was ich zu Beginn an der Veranstaltung so geliebt habe: herumtingeln, sich treiben lassen, mit Spontaneität neue Musik entdecken. Der einen oder dem anderen fehlten vielleicht ein paar größere Namen; für mich war die Rückbesinnung - ob geplant oder nicht - aber ein schöner Schritt nach vorn. Apropos Schritte: In diesem Jahr waren das laut Schrittzähler seit Mittwoch 64.057 Schritte bis zu meinem heimischen Schreibtisch, also in etwa ein Marathon. Für das Reeperbahn Festival ebenfalls eine Zahl die ganz okay ist.

Allerdings bin ich jetzt trotzdem etwas müde, wie ich gerade merke: Versehentlich habe ich eine Tasse Kaffee auf meinen Laptop fallen lassen. Auweia. Bevor mein Arbeitsgerät anfängt zu brennen und ich gleich besser mal langsam ins Bett stolpere, bedanke ich mich vorher aber fürs Lesen: Danke, danke, danke. Bis zum nächsten Mal!

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 25.09.2021 | 07:20 Uhr

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