Stand: 08.12.2023 14:07 Uhr

KADER und KISMET- Schicksalhaftes Hamburg

von Canan Uzerli

Im Rahmen der Essay-Reihe "Kultur - Orte - Ich" schreibt Canan Uzerli über ihre Entwicklung als Sängerin in Hamburg. Dabei leitet sie die Frage der Schicksalhaftigkeit.

Seit jeher stelle ich mir diese Frage: Wird mein Leben vor allem durch Fügungen des Schicksals oder durch meine eigenen Entscheidungen gelenkt? Im Türkischen gibt es gleich zwei Worte für Schicksal: Kader und Kısmet. 

Kader bezieht sich auf das Schicksal im Sinne eines vorbestimmten göttlichen Plans und Kısmet nutzt man im Sinne einer glücklichen Fügung. Dabei wird es im Türkischen meistens als Erklärung für fast alles verwendet. Vielleicht ist mir der Schicksalsgedanke deshalb so vertraut.

Meine eigene Verbindung zum Schicksal habe ich besonders in Hamburg kennengelernt, der Stadt in die ich kam, um meinen Weg zu finden. Beinahe hätte ich diese Chance verpasst, denn meine Studienplatzbestätigung für "Türkeiwissenschaften" an der Universität war in der Post verloren gegangen und hat mich nie erreicht. Aber auf Nachfrage dann doch Kismet! - Ich hatte den Platz.

Eine junge FRau mit Hochsteckfrisur steht auf einer Straße zwischen Häusern. Straße und Häuser laufen hinter ihrem Kopf in die Flucht. Nachdenklich blickt sie in die Kamera. © Canan Uzerli Foto: Jan Gemkow
Bei der Titelwahl ihres ersten Albums "IÇTEN GELEN SES – Die Stimme aus dem Inneren" ist Canan Uzerli einer inneren Eingebung gefolgt.

Ich begann das Studium voller Vorfreude, auch deshalb, weil ich gerade sechs Monate in Istanbul für ein Schulpraktikum bei meiner Großmutter gelebt hatte und mich unbedingt auch weiterhin mit der türkischen Kultur beschäftigen wollte. Meine Begeisterung dafür führte allerdings bald zu meiner ersten Identitätskrise. In Kassel hatte ich nur deutsche Freunde. Fragen meiner türkischen Mitstudierenden wie "fühlst du dich eher deutsch oder türkisch?" etc. wurden mir bis dato nie gestellt. Ich war verwirrt und fühlte mich vor allem eines: Anders.

Bisher hatte ich meine türkische Seite nur im Urlaub bei den Verwandten in Istanbul ausgelebt und zuhause über die Sprache, die Erzählungen meines Vaters und das Hören türkischer Musik. Hier begann ich mich zu fragen: wie türkisch bin ich?
Ich erinnerte mich, wie glücklich und unbeschwert ich in Kassel gewesen war und, natürlich: die Musik fehlte mir! Ich hatte schon immer gesungen und Musik war für mich universelle Sprache und verbindendes Element. Ja, ich wollte singen in Hamburg!

Es dauerte nicht lange, da fiel mir ein Flyer in die Hände: "Teilnehmer für Gesangskurs gesucht." War das ein Zeichen? Kurz darauf sah ich ein Plakat: Hamburg School of Music-Pop & JazzGesang - jetzt anmelden zur Aufnahmeprüfung. Ob ich das wohl einfach versuchen sollte und schauen, wie das Schicksal entscheidet? Kısmet! Ich bestand die Aufnahmeprüfung und damit wurde klar: ich will diesen neuen Weg einschlagen! Gleichzeitig würde ich mein Studium abbrechen müssen – was würde mein Vater dazu sagen? Ihn hatte es mit Stolz erfüllt, dass ich wie er den akademischen Weg eingeschlagen hatte und mich so für sein Heimatland interessierte.
Aber ich war fest entschlossen und so unterstützte er mich, zumal er damals vor seiner Ankunft in Deutschland selber die Aufnahmeprüfung für Gesang am Konservatorium in Istanbul bestanden hatte, ohne allerdings die Ausbildung je anzutreten.

Meine Ausbildung zur Sängerin brachte in mir den Wunsch hervor, mich mit Türkischem Gesang zu beschäftigen. Mit den Jahren reifte in mir eine musikalische Identität heran und ich spürte, ich möchte meine beiden Kulturen auf musikalische Weise verbinden. Ich möchte hier in Deutschland türkisch singen und einem höheren Sinn folgen: eine Brückenbauerin zwischen den Welten werden.

Die Sängerin Canan Uzerli klatscht auf einem schwarz-weiß Foto in die Hände. © Antje Sauer Foto: Antje Sauer
Canan Uzerli ist Sängerin, Gesangslehrerin und Podcasterin.

Der Titel meines ersten Albums "IÇTEN GELEN SES – Die Stimme aus dem Inneren" war eine innere Eingebung. In diesem Moment wusste ich: So wird mein erstes Album heißen. Ich begab mich dafür von Hamburg aus auf eine Reise in mein Herz und schrieb Lieder über all die Themen, die ich in meinem Inneren vorfand.
Wie ich mir die Instrumentierung meiner Songs vorstellte, war eigentlich schon lange, bevor ich den Weg zur Sängerin eingeschlagen hatte, klar: als ich damals in Kassel im Film von Fatih Akin "Im Juli" das Lied "Güneşim" gehört hatte, war es musikalisch um mich geschehen. Aus heutiger Sicht für mich ein schicksalhafter Moment, in dem Hamburg schon damals an meine Tür geklopft hat, ohne dass es mir bewusst war.

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Nun Jahre später in Hamburg dachte ich wieder an dieses eine, mein Lieblingslied, und war sehr verwundert herauszufinden, dass es ein deutscher Musiker aus Hamburg komponiert hatte. Was für ein Zufall, oder doch Schicksal? Ich schrieb ihn an und Kısmet! ich bekam eine positive Antwort und wir trafen uns zum gemeinsamen Musizieren.
Beflügelt begab ich mich gemeinsam mit meinem Gitarristen Henrik Kolenda in den musikalischen Schreibprozess von 12 Liedern, zusammen mit den Stücken von Ulrich Kodjo Wendt wurden es 15. Genug  für mein erstes Album "IÇTEN GELEN SES" - Die Stimme aus dem Inneren. Es war nun an der Zeit eine Band zu gründen. Und wieder Kısmet! - Ulrich Kodjo Wendt wurde Teil meiner Band!

Aber, wollte ich ab jetzt meinen weiteren Weg "nur" dem Schicksal überlassen? Ein eigenes Projekt ins Leben zu rufen ist das eine, aber damit auch eine Chance zu bekommen das andere. Und dafür braucht es einen langen Atem und viel Willenskraft. Der Wink des Schicksals ereilte mich prompt, diesmal in Form einer Glückskeks-Botschaft: "Sie müssen hartnäckiger werden". Auch dieses kleine Zeichen nahm ich sehr persönlich und hakte lieber einmal mehr bei Konzertveranstaltern nach. Das zahlte sich aus und ich konnte erfolgreich Konzerte buchen. Hamburg nahm uns offenen Herzens auf.

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Das dabei vielleicht größte Geschenk waren die Reaktionen unserer ZuhörerInnen. Wir hatten neben begeistertem türkischem Publikum stets viele deutsche BesucherInnen, die nach den Konzerten berührt und begeistert auf mich zukamen, sie hätten ja nicht gewusst, wie schön die Türkische Sprache anzuhören sei. Es war für mich eine große Erfüllung, ins Publikum zu blicken und mich als Teil dieser diversen kulturellen Gemeinschaft wahrzunehmen.

Jetzt spürte ich einen noch tieferen Sinn, dass ich als Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, auf diese Welt und vor allem auch nach Hamburg gekommen bin. Ich erlebte mich nicht mehr mit zwei Herzen in meiner Brust, nicht mehr im Spannungsfeld zwischen „entweder -oder“, sondern im „sowohl als auch“.

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Mein „neues ich“ ließ mich noch offener werden für die Belange und Themen von TürkInnen in Deutschland. Ich begann mich für ihre Erfahrungen, Gedanken, Gefühle und Hoffnungen hinsichtlich ihres Lebens mit zwei Kulturen zu interessieren. Die Idee einer Interviewreihe für einen Podcast entstand, den ich unter dem Namen„İki Dünya- Zwei Welten- Deutsch-Türkische Lebenslinien“ während der Pandemie veröffentlichte. Damit wollte ich einen Beitrag leisten zur Begegnungskultur aber auch die Diversität der Türken in Deutschland aufzeigen, um Vorurteile abzubauen.

Die Pandemie hielt länger an als erwartet und Konzerte wurden abgesagt. In dieser Zeit kam im Frühling 2022 ein schicksalhafter Anruf der Interkulturellen Denkfabrik e.V. Ich wurde mit meiner Band eingeladen bei dem „Projekt 60! Leben“ im Zuge der Feierlichkeiten zu 60 Jahre Deutsch-Türkischem Anwerbeabkommen konzertieren. Das Projekt begeisterte mich sofort. Über 60 türkische Lebensgeschichten erzählt in Interviews und als Videos festgehalten und veröffentlicht, eingerahmt in viele kulturelle Lesungen und Konzerte und wir sollten beim feierlichen Abschlusskonzert spielen - Was für eine Ehre!

Als die Stätte für das Konzert bekannt gegeben wurde, konnte ich es kaum glauben: im kleinen Saal der Elbphilharmonie! Seit Fertigstellung der Elbphilharmonie träumte ich davon eines Tages im kleinen Saal aufzutreten, in dem vor allem auch Weltmusik gespielt wurde. Und jetzt also Kısmet! Wir spielten ein ausverkauftes Konzert innerhalb eines Rahmens, den ich mir schöner nicht hätte erträumen können. Ich fühlte mich nun mit meinem Projekt angekommen in der Mitte der Deutsch-Türkischen Community und es berührte mich zutiefst bei diesem besonderen Anlass zu spielen.

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Wenn ich mir heute vor Augen führe, wie viel Kısmet mir die Stadt Hamburg in den letzten Jahren "vermittelt" hat, dann bin ich einfach nur baff. Ich bin unendlich froh meinem inneren Ruf in diese weltoffene Stadt gefolgt zu sein und sehr dankbar, welche schicksalhaften Begegnungen und Ereignisse mir dabei geholfen haben, meinen Weg zu finden. Und wer weiß, welche Fügungen mir auf dem Weg zum 2. Album begegnen werden.

Ich sage von Herzen Danke und çok teşekkürler schicksalhaftes Hamburg!

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Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 20.11.2023 | 07:20 Uhr

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