Die Regisseurin Nora Fingscheidt lächelt in die Kamera. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild Foto:  Jens Büttner

Nora Fingscheidt: Zwischen Doku, Drama und Hollywood

Stand: 11.02.2024 17:59 Uhr

Mit "Systemsprenger" gelang der 40-jährigen gebürtigen Braunschweigerin der internationale Durchbruch. Nora Fingscheidts neues Drama "The Outrun" mit Saoirse Ronan lief beim Sundance Festival und kommt nun zur Berlinale. Ein Porträt.

von Yasemin Ergin

Kaum jemand kannte Nora Fingscheidts Namen, als ihr Spielfilmdebüt "Systemsprenger" bei der Berlinale 2019 für Aufsehen sorgte. Das Außenseiterdrama über ein neunjähriges, rasend wütendes Mädchen, das durch alle Einrichtungen der Jugendhilfe fällt und sich nicht in ein normales Leben integrieren lässt, wurde zum Favoriten des Publikums und der Kritik. Auf den Silbernen Bären, den der Film auf dem Festival gewann, folgten viele weitere Auszeichnungen. "Systemsprenger" wurde einer der großen Erfolge des Kinojahres und wurde 2020 mit insgesamt acht Deutschen Filmpreisen ausgezeichnet. Für Regisseurin Fingscheidt eröffneten sich ungeahnte neue Möglichkeiten.  

Karriere beginnt im ostfriesischen Emden

In gewisser Weise begann die Karriere der 1983 in Braunschweig geborenen Filmemacherin im ostfriesischen Emden. 2016 gewann das Drehbuch für ihr Erfolgsdrama auf dem Emder Filmfest den Drehbuchpreis. Es war die erste große Anerkennung für ein Filmprojekt, in das Fingscheidt jahrelange Vorarbeit gesteckt hatte. Schon immer habe sie einen Film über ein starkes, wütendes Mädchen drehen wollen, erzählte sie damals in Interviews, doch lange habe ihr die passende Geschichte gefehlt.

Bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über ein Obdachlosenheim für Frauen sei ihr dann eine 14 Jahre alte Insassin begegnet, eine so genannte "Systemsprengerin", wie die Betreuer*innen ihr erklärten. Der Begriff und die dahinter steckende Not ließen Fingscheidt nicht mehr los. Sie begann in Jugendeinrichtungen und Wohngruppen zu recherchieren, traf unzählige Betroffene und viele überforderte Sozialarbeiter*innen - und brauchte zwischendurch immer wieder eine Pause von dem Elend.  

"Systemsprenger" war Low-Budget-Produktion

In einer dieser Pausen entstand ihre Dokumentation "Ohne diese Welt" über eine argentinische Mennonitengemeinde. Das Projekt war der Abschlussfilm der zu dieser Zeit noch an der Filmakademie Baden-Württemberg studierenden Regisseurin. Der Film wurde beim Max-Ophüls-Festival mit dem Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. Das Preisgeld und die damit einhergehende Aufmerksamkeit halfen ihr dabei, weiter an ihrem Herzensprojekt "Systemsprenger" zu arbeiten - einem Film, der als absolute Low-Budget-Produktion entstand. Sie habe sich während der Entstehung des Films mit Nebenjobs über Wasser halten müssen, erzählte die Regisseurin später.  

Berufswunsch "Regisseurin" seit Teenagertagen

Bevor Fingscheidt an die Filmakademie in Ludwigsburg ging, um dort Szenische Regie zu studieren, baute sie in Berlin ab 2003 die autonome Filmschule filmArche e.V. mit auf und realisierte erste Kurzfilme. Der Wunsch, Regisseurin zu werden, sei bei ihr schon als Teenagerin, nach mehreren unbefriedigenden Kinobesuchen entstanden, wie sie einmal erzählte. Filme hätten sie schon immer extrem beeindruckt, aber nach "Titanic" (von James Cameron) etwa habe sie das Kino verlassen und den Film direkt noch mal drehen wollen: mit neuem Ende. Als es ihr bei immer mehr Filmen so ging, habe sie dann irgendwann im Internet recherchiert, wie sie Regisseurin werden könne.  

Schneller Aufstieg nach "Systemsprenger"

Mit dem durchschlagenden Erfolg ihres ersten Spielfilms stieg Nora Fingscheidt dann direkt in die Riege der meist beachteten deutschen Filmemacher*innen auf. Nach der Berlinale-Premiere von "Systemsprenger" landeten mehr als 35 Drehbücher in ihrem Postfach. Das verlockendste Angebot kam von Veronica Ferres, die mit ihrer Produktionsfirma amerikanische Filme co-produziert.

Ob Fingscheidt bei einem Netflix-Drama mit Sandra Bullock in der Hauptrolle Regie führen wolle, fragte Ferres sie bei einem schnell improvisierten Treffen am Hamburger Flughafen. Fingscheidt sagte sofort zu und zog noch im Oktober 2019 mit ihrem Lebensgefährten und ihrem damals neun Jahre alten Sohn nach Los Angeles, um mit der Arbeit an "The Unforgivable" zu beginnen. 

Weitere Informationen
Regisseurin und Autorin Nora Fingscheidt im Interview in Hamburg © NDR Foto: Patricia Batlle

Hamburger Regisseurin dreht mit Sandra Bullock

Die Hamburger Regisseurin Nora Fingscheidt hat mit ihrem Debütfilm "Systemsprenger", Deutschlands Oscar-Hoffnung, großen Erfolg. Bald dreht sie mit Sandra Bullock in Hollywood. mehr

Riesiges Filmset in Hollywood für "The Unforgivable"

Zwischen den Low-Budget-Produktionen, die sie bis dahin kannte, und dem Filmset des Hollywood-Dramas lagen Welten, wie Fingscheidt damals in Interviews erzählte. Das Filmset von "The Unforgivable" war zehnmal so groß wie das von "Systemsprenger". Manchmal habe sie den Regieassistenten beiseite nehmen müssen, um ihn zu fragen, welche Aufgabe diese ganzen vielen Menschen eigentlich alle so hätten.

Szene aus dem Drama "The Unforgivable" mit Sandra Bullock © Kimberley French
AUDIO: "The unforgivable": Film von Nora Fingscheidt mit Sandra Bullock (4 Min)

Als wäre das alles nicht herausfordernd genug, wurden die Dreharbeiten wegen der Corona-Pandemie unterbrochen und nach fünf Monaten Pause unter strengen Lockdown-Bedingungen in Kanada fortgesetzt. Zwischendurch wurde Fingscheidt auch noch zum zweiten Mal Mutter.  "The Unforgivable" erschien 2021 trotz aller Hindernisse. Doch der Film über eine Frau, die wegen Mordes eine 20-jährige Haftstrafe verbüßt und nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis daran scheitert, in die Gesellschaft zurückzufinden, wurde von der Kritik weitgehend zerrissen. Fingscheidt nahm es sportlich. Dass ein so großes Projekt kein Kritikerliebling werden würde, sei ihr klar gewesen, sagte sie damals. Der Ausflug nach Hollywood sei eine einmalige Chance gewesen, aber sie habe ohnehin nie vorgehabt, dort zu bleiben.  

Drama "The Outrun" 2024: Erst in Sundance, dann bei der Berlinale

Nach "The Unforgivable" ging Fingscheidt dann erstmal wieder in die ganz andere Richtung und drehte einen Experimental-Kurzfilm für arte über 24 Stunden im Leben von verschiedenen Frauen. Das nächste große Projekt war da aber schon längst in Arbeit. Mit der vierfach oscarnominierten Schauspielerin Saoirse Ronan drehte sie auf den schottischen Orkney-Inseln das Drama "The Outrun", das im Januar auf dem renommierten Sundance-Festival in den USA Premiere feierte und nun auf der Berlinale in der Reihe Panorama laufen wird.   

Weitere Informationen
Die in Braunschweig geborene Regisseurin Nora Fingscheidt hat lange in Hamburg gelebt ©  picture alliance / Jordan Strauss/Invision/AP Foto: Jordan Strauss

Nora Fingscheidt: Filmemacherin mit "Vorliebe für Antihelden"

Die gebürtige Braunschweigerin spricht über ihren Lieblings-Coming-of-Age-Film, ihre norddeutschen Wurzeln und ihr Drama "The Outrun" mit Saoirse Ronan. mehr

US-Remake von "Systemsprenger"

Sie wäre jederzeit wieder bereit zu kellnern, um am Ende die Geschichte zu machen, die sie wirklich machen wolle, sagte Nora Fingscheidt einmal. Doch soweit wird es wohl nicht mehr kommen für die gut beschäftigte Regisseurin. Vielleicht wird sie auch Hollywood noch mal eine Chance geben müssen.

Denn ihr Erfolgsfilm "Systemsprenger" soll dort noch mal neu aufgelegt werden: Der Branchenriese Metro-Goldwyn-Mayer sicherte sich die Rechte für das US-Remake. Als Produzent und Hauptdarsteller von "System Crasher" ist Filmstar Channing Tatum im Gespräch, doch der Regieposten ist bislang noch vakant. Vielleicht klingelt bei Nora Fingscheidt ja schon bald das Telefon mit einem Angebot, das sie nicht ausschlagen kann.  

Weitere Informationen
Julia von Heinz, Regisseurin, mit ihren Hauptdarstellern Stephen Fry (r.) und Lena Dunham (li.) © Seven Elephants, Julia Terjung

Berlinale 2024: Norddeutsche Filme wie "Sterben" beim Festival

Beim Filmfest laufen norddeutsche Produktionen. Dazu gehören die Dramen "Sterben", "The Outrun" sowie der historische Film "Treasure" von Julia von Heinz. Bildergalerie

Matthias Glasner mit seinen Hauptdarstellern aus "Sterben" beim Photocall der Berlinale Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch und Lars Eidinger © Monika Skolimowska/dpa +++ dpa-Bildfunk Foto: Monika Skolimowska

Berlinale 2024: Die norddeutschen Filme beim Festival

Am Donnerstag ist das Filmfest gestartet. Das Drama "Sterben" des Hamburgers Matthias Glasner hat im Wettbewerb Weltpremiere gefeiert. mehr

Eine Frau mit blauen Pulli ält eine Orange, danaben seht eine Frau mit dunkler Brille (Autorin Claudia Scharf mit Agentin Danile Steiner von Carlsen bei "Books at Berlinale") © NDR Foto: Patricia Batlle

Hamburgerin Claudia Scharf bringt Fantasy-Kinderbuch zur Berlinale

Die Hamburger Autorin hat ihren Fantasy-Debütroman für Kinder ab acht beim Filmfest in Berlin präsentiert, damit er verfilmt werden kann. mehr

Helena Zengel (links) und Stephan Kampwirth sitzen lächelnd am Klavier und schauen sich an - Serie "Die Therapie" © Prime Video / Britta Krehl Foto: Britta Krehl

"Die Therapie": Helena Zengel über ihre Rolle in der Fitzek-Serie

Die 15-Jährige spielt die verschwundene Tochter eines Psychiaters, der auf einer Nordseeinsel Merkwürdiges erlebt. Die Serie basiert auf Sebastian Fitzeks erstem Thriller. mehr

Jurypräsidentin der Berlinale Lupita Nyong'o (r.) steht neben der Regisseurin des Filmes "Dahomey" Mati Diop, die den Goldenen Bären gewonnen hat © Nadja Wohlleben/Reuters/Pool/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Nadja Wohlleben

Berlinale: Goldener Bär für Raubkunst-Doku über Benin-Bronzen

Die Doku "Dahomey" von Mati Diop hat den Hauptpreis des Filmfests gewonnen. Matthias Glasner aus Hamburg wurde für das beste Drehbuch ausgezeichnet. mehr

Die 15-jährige Schauspielerin Helena Zengel bei der Filmpremiere zur Serie "Die Therapie" in Berlin © Oliver Walterscheid Foto: Oliver Walterscheid

Schauspielerin Helena Zengel: Teenagercharme und Berliner Schnauze

Die 15-jährige Berlinerin hat mit Tom Hanks gedreht, war für einen Golden Globe nominiert und ist nun im Thriller "Die Therapie" zu sehen. mehr

Eine junge Frau sitzt auf einem Bett, zwei Männer sitzen am Bettrand neben ihr und lächeln (Szene aus "Challengers" von Luca Gadagnino mit Zendaya) © Niko Tavernise / 2023 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.  All Rights Reserved. Foto: Niko Tavernise

Filme 2024: Diese Highlights kommen ins Kino

2024 locken Blockbuster wie "Alles steht Kopf 2" und "Gladiator 2" ins Kino. Auch von Nora Fingscheidt, Ridley Scott und vom "Joker" gibt's Neues. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Filme | 04.01.2024 | 06:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Porträt

Spielfilm

Eine junge Frau sitzt auf einem Bett, zwei Männer sitzen am Bettrand neben ihr und lächeln (Szene aus "Challengers" von Luca Gadagnino mit Zendaya) © Niko Tavernise / 2023 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc.  All Rights Reserved. Foto: Niko Tavernise

Filme 2024: Diese Highlights kommen ins Kino

2024 locken Blockbuster wie "Alles steht Kopf 2" und "Gladiator 2" ins Kino. Auch von Nora Fingscheidt, Ridley Scott und vom "Joker" gibt's Neues. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Zu Beginn des dritten Deutschen Evangelischen Posaunentags spielen rund 15.000 Blechbläserinnen und -bläser auf dem Eröffnungsgottesdienst auf der Moorweide in Hamburg. © dpa-Bildfunk Foto: Markus Scholz

Posaunentag: Goldenes Blech funkelt in Hamburgs Abendsonne

Rund 15.000 Blechbläser haben zum Auftakt auf der Moorweide gespielt. Am ganzen Wochenende gibt es viele Konzerte und Workshops. mehr