Der Schauspieler Murat Dikenci © Murat Dikenci

Murat Dikenci: Über das Leben in einem "Transitzustand"

Stand: 09.12.2023 00:01 Uhr

Im Rahmen der Essay-Reihe "Kultur - Orte - Ich" schreibt Murat Dikenci über das Aufbrechen, Sehnsuchtsorte und Abschiede. Der Flughafen dient ihm in seinem Essay "Transitzustand" nicht nur als Metapher.

von Murat Dikenci

Mein künstlerisches Denken befindet sich in einem Transitzustand, weshalb ich mir die anderen Reisenden immer genauer anschaue. Als Enkel von Gastarbeiter*innen ist man als Kind immer mit dem Gedanken konfrontiert worden, dass es jederzeit wieder "zurück" gehen kann, zurück an einen Ort, wo man nie gelebt hat, einen Sehnsuchtsort, da man sich nicht wohl gefühlt hat in Deutschland, hier nie willkommen war, sondern eher geduldet wurde.

Meine Großeltern waren in den 60er-Jahren ziemlich abenteuerlustig. Sie setzten sich mit ein paar Koffern in einen Zug und entschlossen sich, ein neues Leben in einem Land aufzubauen, das sie überhaupt nicht kannten. Ein Land, das gerade einmal 15 Jahre zuvor den Krieg hinter sich gelassen hatte und nun Menschen brauchte, die auf den Trümmern neues Leben aufbauen sollten. Meine Familie landete also irgendwann in einem Vorort von Hannover, in Garbsen. Durch Garbsen hindurch verläuft die Autobahnstrecke A2, die Berlin bis zum Ruhrgebiet verbindet und eine der wichtigsten Transitrouten zwischen Osteuropa und Westeuropa ist. Täglich zogen riesige LKWs an uns vorbei. Ich erinnere mich noch daran, dass mein Vater einen Fahrer aus der Türkei über sein Funkgerät zum Essen einlud und ihn bis zu uns nach Hause lotste. Wir saßen gemeinsam vor unserer Linsensuppe und der fremde Mann erzählte uns, wie einsam diese Strecken sein können und freute sich über ein wenig Gesellschaft auf seiner langen Reise fernab seiner eigenen Familie.

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Wenn man direkt an einer Autobahn wohnt, gewöhnt man sich an das weiße Rauschen, das es von sich gibt. Man hört es nach all den Jahren nicht mehr, nimmt es überhaupt nicht mehr wahr - es fühlt sich irgendwann wie Meeresrauschen an, während täglich tausende Menschen einsam in ihren Autos an uns vorbei rasen. So trist die Stadt auch aussah, katapultierte sie uns im Gedanken ans Mittelmeer. Das Meeresrauschen wurde durchmischt von dem Geräusch der Turbinen der Flugzeuge, die mit ihren Schlieren Botschaften in den Himmel malten. In nur 6 km Luftlinie lag der Flughafen Hannover entfernt. Ich schaute als Kind oft aus dem Küchenfenster in den Himmel, versuchte die Schlieren zu dechiffrieren und bemühte mich, am Logo zu erkennen, ob es eine Maschine der Lufthansa oder Turkish Airlines war und fragte meine Mutter, ob sie es auch erkannt hatte.

Obwohl uns keine Reise bevorstand, fuhren meine Eltern mit meiner Schwester und mir an manchen Wochenenden zum Flughafen. So befriedigten wir das Gefühl, ständig auf der Reise zu sein. Wir schlenderten durch die Abfertigungshallen, holten uns ein Eis und beobachteten die anderen Reisenden, während ich fasziniert von der kyrillischen Schrift der Reiseangebote von russischen Airlines war. Neben den aufgeregten Familien mit bunten Koffern, Sommerhüten und ihrer blassen Haut mischten sich Familien, die mit ihren tomatenroten, von der Sonne verbrannten Gesichtern entspannt von ihrem Urlaub zurückkamen.

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Wir beobachteten Familien, die mit in tiefster Trauer gezeichneten Augen direkt zu den Check-in-Schaltern gingen. Man sah ihnen an, dass sie die ganze Nacht über nicht geschlafen hatten. Wir sahen aufgeregte Menschen, die es noch versuchten, pünktlich zur Beerdigung ihrer Familienangehörigen zu schaffen oder ihre Verstorbenen direkt im Frachtraum mit auf ihre letzte Reise nahmen, sodass aus Import wieder Export wurde.

Die Nachricht eines Tods in der Diaspora kommt oft nachts, weswegen wir Menschen im Transitzustand unsere Telefone nie in den Ruhemodus versetzen können, da wir Angst haben, nicht schnell genug reagieren zu können. Der Transitzustand ist somit ein dauerhafter Zustand des Nicht-Angekommen-Seins, wie in einem Wartezimmer ohne Termin, nie zu wissen, was als Nächstes kommt, immer auf der Durchreise, ständig im Panikmodus. Es fühlt sich manchmal so an, als würde man den Wecker für den nächsten Morgen vor einer bevorstehenden Flugreise stellen, aber trotzdem Angst haben, von dem Klingeln nicht aufzuwachen.

Die Menschen aus muslimisch geprägten Kulturen müssen innerhalb weniger Stunden in den Ort ihrer Eltern oder Geschwister fliegen, um es noch rechtzeitig zur Beerdigung zu schaffen. Denn innerhalb von 24 Stunden muss dort ein Mensch unter die Erde gebracht werden. Auch ich stand schon mal mit meinem Vater um 5 Uhr morgens mit müden Augen am Flughafen Hannover und stieg in den nächsten Flieger nach Istanbul, um mich von meiner Oma zu verabschieden.

Ich empfand den Flughafen schon immer wie ein Portal, das uns durch eine gläserne Tür von dem Rest der Welt getrennt hat. Aber es ist auch ein Ort der Ungerechtigkeit. Ich sah traurige Menschen, die von der Polizei zum Flugzeug begleitet und in ihren vom Krieg gebeutelten Heimatort abgeschoben wurden. Menschen, die sich voller Glückseligkeit auf ihren Luxusurlaub auf Bali freuten und wiederum Menschen, die mit ihrem Pass nur an wenige Orte reisen können und oft schon an den grimmigen Grenzbeamten scheiterten. Menschen, die ihr letztes Geld für ein Flugticket ausgaben, um ihre Leidenschaft zu befriedigen, die Menschen zu sehen, die sie wirklich lieben, an Orte zu reisen, wo sie nicht als Fremde wahrgenommen werden. Ein Ort, der gerade bei Menschen mit nicht-westlichen Ausweispapieren tief sitzende Existenzängste auslösen kann.

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In der hintersten Halle fertigten sie die Flugreisenden in elendig langen Warteschlangen Richtung Türkei ab. Ich beobachtete Gastarbeiter*innen der ersten Generation, die ständig ihre herumtollenden Enkel ermahnten, nicht wegzulaufen, oder sie ständig abknutschten, weil sie Angst hatten, dass es der letzte Kuss zwischen ihnen sein könnte, bevor sie sich nie wiedersehen. Zwischen ihren Koffern lagen Waschmittel, Rollatoren und übergroße Pakete als Geschenke für die Familien in der weit entfernten Heimat, zu denen sie nach Ankunft noch stundenlang im Auto weiterfahren mussten.

In der Halle nebenan Flugzeuge nach Pristina, Erbil, Athen, Nowosibirsk und Neapel, an Orte von unseren Nachbar*innen, die wir in den Fluren oder Höfen unserer Wohnblocks trafen. Menschen, mit denen wir unsere Parkplätze teilten. Auch sie im Transitzustand, deren Migrationsgeschichte sich in der DNA festsetzte, auch sie voller Sehnsucht im Wartemodus auf ein Wiedersehen mit der Familie, ob vor verschlossenen Türen in der Ankunfts- oder Abflughalle.

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Wie oft standen wir gemeinsam in diesen hellen Hallen mit grauem Steinboden, verabschiedeten und begrüßten unsere Großeltern, Tanten und Onkel, lachten, weinten und umarmten uns. Wir winkten einander aufgeregt zu, es flossen Tränen der Freude, der Trauer, alles vermischte sich in Gefühlszustände, die sich Menschen im Transitzustand über sich ergehen lassen müssen, die sich in einer emotionalen Fernbeziehung mit ihrer Familie befinden. Es sind vielleicht die einzigen Orte, wo es für manche Menschen in Ordnung ist, Körperberührungen und Küsse in der Öffentlichkeit zuzulassen.

Menschen in Fernbeziehungen arbeiten an ihren emotionalen Fußabdrücken - niemandem kann man übel nehmen, dass sie damit die Umwelt belasten. Flughäfen sind ein Hilfsmittel der Entfremdung mit unserer Welt entgegenzuwirken, ihr einen Sinn zu verleihen. Der Mensch, der sich in einem Transitzustand befindet, einer Art Exil ihres örtlichen Ursprungs, verleiht sich somit immer wieder einen inhärenten Sinn, eben an die Orte zurückzukehren, die uns etwas bedeuten, um uns aus unserer Gleichgültigkeit zu entziehen. Oft sind diese Sehnsuchtsorte einfach Menschen, die unserem Leben wieder einen Sinn geben.

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Die Reisenden im Transitzustand, entwurzelt aus ihrem ursprünglichen Umfeld und auf der Suche nach einer Vertrautheit in der Fremde, haben mich schon immer in meinem künstlerischen Schaffen inspiriert. Ihre persönlichen Geschichten, Rituale, Habitus und Widerstände – all jene, die von der Dominanzkultur abweichen, finden Platz in meinen Arbeiten. In dem Gedicht "JETLAGFINSTERNIS" des palästinensisch-dänischen Lyrikers Yahya Hassan, dessen Reise im Alter von nur 24 Jahren endete und dessen Gedichtband ich als Regisseur am Schauspiel Hannover zur Uraufführung brachte, sind folgende Passagen zu finden:

"ICH PISSE JA AUF MEIN EIGENES GRAB
UND DAS GRAB NEBENAN DAS IST DAS MEINES VATERS
DIE ERDE IST OHNEHIN NICHT MEIN."

So schaue ich als Erwachsener noch immer in den Himmel und stelle mir vor, dass wir im Flugzeug mit allen Reisenden für einen Moment alle Ausländer sind.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 20.11.2023 | 07:20 Uhr

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Lyrik

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