Die Heilkraft der Literatur: Buchtipps aus der Redaktion
"Die Heilkraft der Literatur" heißt unser Schwerpunktthema. Die Kolleg*innen aus der Literaturredaktion stellen Bücher vor, die für sie tröstend oder ermutigend waren und über schwierige Zeiten hinweghelfen können.
"Nächsten Sommer" von Edgar Rai / Aufbau Taschenbuch
Manchmal sind es ja die Zufälle, die das Leben bereichern. Vor vielen Jahren fiel mir ein Buch in die Hände: "Nächsten Sommer" von Edgar Rai. Drei Freunde fahren mit einem schrottreifen Bulli nach Südfrankreich. Nebenbei lesen sie noch drei Frauen auf und erleben allerlei Abenteuer -ein Roadmovie voller wundervoller Einfälle und witziger Momente, trotzdem einfühlsam erzählt.
"Ein paar Freunde und ein geiler Ort - mehr braucht es eigentlich nicht." - so heißt es an einer Stelle. Schöner Gedanke, aber was ist, wenn man nach einem Umzug recht allein in einer Stadt hockt und der Partner, die Familie und die weltbesten Freundinnen weit weg wohnen? Frust jedenfalls ist keine Option habe ich damals, vor vielen Jahren, beschlossen, als ich in genau dieser Situation steckte. Auch wenn ich beim Lesen von Edgar Rais Roman die weltbesten Freundinnen sehr vermisst habe, habe ich doch eine Lektion gelernt: Freunde sind immer da, auch wenn man sie nicht sieht. Eine kurze Nachricht, ein längeres Telefonat und irgendwann schließt man sich wieder in die Arme und quatscht die Nächte durch.
Und ein Neuanfang - wie ein Umzug - kann auch bedeuten "Aufbruch. Möglichkeit. Sehnsucht." - so formuliert es jedenfalls Edgar Rai. Danke dafür, sagt Maren Ahring.
"Das Geräusch einer Schnecke beim Essen" von Elisabeth Tova Bailey / Piper
Es war im letzten Sommer. Unsere älteste Enkelin hatte bei einem Spaziergang im Park zwei Schnecken entdeckt und darum gebeten, sie mit zu uns nach Hause nehmen zu dürfen. Seitdem sind Schnecki und Schnucki unsere Balkongäste. Kurze Zeit später entdeckte ich das Buch "Das Geräusch einer Schnecke beim Essen" von Elisabeth Tova Bailey. Die US-amerikanische Autorin erzählt darin, wie sie vor vielen Jahren nach einer Europareise mit einer folgenreichen Virenerkrankung nach Hause zurückkehrt. Monatelang ist sie, die soeben noch kerngesund war, ans Bett gefesselt. Eine Freundin schenkt ihr eine Topfpflanze, unter deren Blättern sich eine Schnecke versteckt hat.
Eines Nachts wacht die Erzählerin auf und hört das Geräusch dieser Schnecke beim Essen. Sie fängt an, sich für dieses schleimige Wesen zu interessieren, erfährt, dass Schnecken schon seit mehr als zwei Milliarden Jahren auf der Erde leben und sich unter den Flügeln von Vögeln verstecken, um so auf dem ganzen Planeten leben zu können. Aus der Begeisterung für die Schnecken entsteht allmählich eine große Liebe zum Leben, zur gesamten Schöpfung, wovon der Mensch nur ein kleiner Teil ist. Mir ging es im letzten Sommer nicht immer gut. Corona und die gesellschaftlichen Folgen nagten an mir, wie bei so vielen. Dank Elisabeth Tova Baileys Buch und dank Schnecki und Schnucki, die den Winter bei uns gut überstanden haben, weiß ich, Joachim Dicks, wieder, wie sich das Lebenslicht jederzeit anzünden lässt, auch wenn alles mal dunkel erscheint.
"Elsies Lebenslust" von Patricia Highsmith / Diogenes
Als ich einmal sehr verliebt war, dieses schwerwiegende Gefühl aber nicht die Erwiderung fand, die ich mir gewünscht hätte, las ich einen der weniger bekannten Romane von Patricia Highsmith. Highsmith lesen ist sowieso immer gut; dieses Buch aber, "Elsies Lebenslust", faszinierte mich vor allem deshalb, weil ich von Seite zu Seite immer überzeugter war: Diese Elsie, das ist ja sie! Die, die bei Highsmith mit Koketterie, Versponnenheit und hinreißend-gefährlichem Charme alle um den Finger wickelt - das ist genau die, um die ich gerade so bitter weine. Das ist meine Elsie, haargenau. Dadurch war ich zwar nun nicht schlauer, aber doch, immerhin, getröstet. Denn darin besteht doch die Urkraft guter Literatur: Sie kann uns das Gefühl geben, dass uns irgendjemand versteht, dass unsere Dämonen - und Dämoninnen - auch die Dämonen anderer sind; dass wir nicht allein sind. Alexander Solloch.
"Wie ein einziger Tag" von Nicholas Sparks / Heyne
Wahrscheinlich war es nur eine Erkältung damals, im Winter 1996. Aber Sie wissen ja: Wenn Männer eine Erkältung haben... uih, uih, uih! Mir hat damals der Erstling eines seinerzeit noch völlig unbekannten Nobodys aus den USA geholfen.
Es ist die Geschichte eines betagten Ehepaars: Sie, Allie, liegt an Alzheimer erkrankt, sterbend in einem Krankenhaus. Er, Noah, sitzt Tag für Tag an ihrem Bett und erzählt ihr Gemeinsamkeiten aus ihrer beider Leben - mit allen Höhen und vor allem Tiefen. Am Ende war ich in Tränen aufgelöst, dabei war es doch nur ein Buch: ein wunderbares, warmes, zu Herzen gehendes Buch voller menschlicher Wahrheit.
Und ich traue es mich kaum zu sagen: Aber es war der Erstling des mittlerweile unter schwerem Kitschverdacht stehenden Nicholas Sparks. Ja, wirklich: "Wie ein einziger Tag" hat mir mindestens an diesem einen einzigen Tag wirklich gut getan - verrät heute schamrot Jürgen Deppe.
"Tagebuch 1946 - 1949" von Max Frisch / Suhrkamp
"In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der anderen..." Mein Vater schenkte mir Max Frischs "Tagebuch 1946 - 1949" im Jahr meines 18. Geburtstags. Sehr befasst mit meiner Ich-Werdung, war dieses Buch gleichzeitig Erleuchtung und Balsam auf meine Seele: Da schrieb ja auch jemand Tagebuch, und zwar nicht irgendjemand, sondern ein großer Autor, von dem ich mich auf unsagbar tröstliche Weise verstanden fühlte. Bis heute. Ich nehme das Buch in die Hand, schlage es wahllos auf - und finde einen Satz, der zu mir spricht, zum Beispiel diesen: "Was hat Europa zu fürchten? - Dass eines seiner großen Völker, das zur Zeit der europäischen Weltmacht nie zum Zuge gekommen ist, immer noch von Weltmacht träumt". Aktuell? Nein. Geschrieben im Juli 1948 in Paris. In Max Frischs Sätze kann ich mich einhüllen wie in eine warme Decke. Anna Hartwich.