"Bleibefreiheit": Eva von Redecker denkt Freiheit in neuer Dimension

Stand: 01.11.2023 21:00 Uhr

Woran denken Sie, wenn Sie das Wort "Freiheit" hören? An die Möglichkeit, unbehindert wählen zu dürfen? Tempolimit? Reisefreiheit? Die Philosophin und freie Autorin Eva von Redecker denkt den Begriff neu: als Freiheit, zu bleiben. Das Buch "Bleibefreiheit" stand auf der Shortlist des NDR Sachbuchpreises.

Buchcover "Bleibefreiheit" von Eva von Redecker. © S. Fischer Verlag
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von Agnes Bührig

Mit dem Bild der Schwalben öffnet Eva von Redecker den Kosmos ihrer Gedanken zur Bleibefreiheit.

"Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn die Schwalben wiederkommen? Ich kenne niemanden, der neben Scheunen und Schuppen lebte, dem der Moment nichts bedeutete. Es ist ein Festtag, fast wie Weihnachten oder der Erste Mai. Noch der konventionellste Landwirt, in dessen Ställen Zigtausende Stück Federvieh der Schlachtung entgegen-vegetieren, arretiert die offenen Scheunenfenster, damit die Schwalben ungehindert ein- und ausfliegen können." Leseprobe

Freiheit zeitlich statt räumlich gedacht

Neben den liberalen Freiheitsbegriff, dass der Mensch machen kann, was er will, solange er die Freiheit des anderen nicht beeinträchtigt, setzt die 1982 in Kiel geborene Philosophin die Freiheit durch Gemeinschaft. Statt den Begriff räumlich zu fassen, denkt sie ihn in den Zyklen der Natur, in einem ökologischen, einem feministischen Kontext. Statt räumlich, denkt sie ihn also zeitlich.

"Frei bin ich nicht, wenn ich möglichst viel Bewegungsspielraum habe, sondern wenn ich Lebenszeit habe, erfüllte Lebenszeit über die Dauer meiner endlichen Existenz hinweg, dass man da vielleicht viel besser bündeln kann, was uns begehrenswert erscheint an der Freiheit", erklärt von Redecker im Philosophie-Podcast Tee mit Warum. "Der erste Schritt im Nachdenken war dann dieses paradoxe Wort Bleibefreiheit. Dass man nicht nur frei ist, wenn man wegkann und sich bewegen kann, sondern wenn man einen Ort hat, wo man nicht bedroht ist."

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Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann
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Erklärung des Freiheitsbegriffs anhand von Begegnungen

Ihre zentralen Gedanken zum Freiheitsbegriff beleuchtet Eva von Redecker anhand menschlicher Begegnungen: "Am freisten bin ich, wenn ich allein auf dem Mars bin", zitiert sie einen Zwölfjährigen und thematisiert damit die Bedeutung des Zusammenlebens für die Freiheit. Anhand der Besuche bei ihrer Freundin Jutta, die an Multipler Sklerose erkrankt ist und sich nicht behandeln lassen will, vertieft sie sich in die Freiheit über das Ende des Lebens hinaus.

"Fünf Minuten ins Gespräch war es, als ob die Krankheit wie weggewischt war. (..) Juttas Augen funkelten mit einem koboldhaften Schalk und einer Radikalität, die ich nicht kannte und immer weiter kennenlernen wollte. Ich erklärte es mir damals so, dass es da eben eine intakte, vielleicht gebeutelte, aber doch absolut lebendige Seele gab. Dass diese Seele sich über den Körper erhob, nicht nur in der - zumal dem Umfeld gegenüber - drastischen Entscheidung, ihn unabgemildert sterben zu lassen. Sondern auch im Leben." Leseprobe

Gegenwärtigere Philosophinnen kommen zu Wort

"Hegel sagt, wir seien 'geistige Wesen'", zitiert Eva von Redecker den Philosophen der Aufklärung. Im Übrigen streift sie nur punktuell die Beiträge großer Gelehrter zum Freiheitsbegriff und lässt sich lieber ein mit gegenwärtigeren Philosophinnen wie Simone de Beauvoir und Lisa Muraro. Und sie bezieht sich auf Hannah Arendt und ihre Idee, dass es aufs Anfangen ankommt, denn zur zeitlichen Dimension gehört auch der Neuanfang.

"Freiheit stellt sich ein, wenn wir uns ins richtige Verhältnis zur Geburt setzten. Und das richtige Verhältnis ist eine Wiederholung. Das Anfangen vollzieht das Geborenwerden gewissermaßen aufs Neue. Freiheit ist eine Selbstwiedergeburt." Leseprobe

Unerwartete, neue Dimension der Freiheit

Eva von Redecker führt einen mit ihrer anschaulichen Sprache und aus dem eigenen Erleben heraus wie von selbst in das Universum der Freiheit im Gestern und Heute. Es ist ein alltagsnahes Nachdenken über den Begriff in zeitlicher Perspektive, das eine unerwartete, neue Dimension der Freiheit eröffnet.

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Eva von Redecker sitzt auf einer Bühne. © picture alliance/dpa Foto: Horst Galuschka

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Cover: "Alle Zeit" / "Keine falsche Toleranz" / "Revanche" / "Bleibefreiheit" © Ullstein / C.H. Beck / S.Fischer / Europäische Verlagsanstalt

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Bleibefreiheit

von Eva von Redecker
Seitenzahl:
160 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
S. Fischer Verlag
Veröffentlichungsdatum:
24.05.2023
Bestellnummer:
978-3-10-397499-7
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Nachmittag | 23.10.2023 | 15:20 Uhr

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Sachbücher