Einkaufstüte und das Schlaflager eines Wohnungslosen in Kiel. © picture alliance / dpa Foto: Frank Molter
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Einkaufstüte und das Schlaflager eines Wohnungslosen in Kiel. © picture alliance / dpa Foto: Frank Molter
AUDIO: "Kieler Ankerplätze": Führung durch die Lebenswelt von Wohnungslosen (6 Min)

"Kieler Ankerplätze": Führung durch die Lebenswelt von Wohnungslosen

Stand: 19.03.2024 08:52 Uhr

Jeden Tag bewegen wir uns durch die Stadt, in der wir leben. Dabei haben wir oft nicht wirklich ein Auge für unsere Umgebung. Es gibt Stadtführungen, die uns auf das aufmerksam machen können, was wir übersehen.

Roman Pfitzner ist Sozialarbeiter und hat vor ein paar Jahren das Projekt "Kieler Ankerplätze" ins Leben gerufen. Dabei zeigen Menschen, die obdachlos sind oder es mal waren, die Stadt.

Herr Pfitzner, nehmen Sie uns mal mit an einen typischen Ort, den Sie selber vorher gar nicht auf dem Schirm hatten, den Sie aber durch das Projekt kennen- und vielleicht sogar schätzen gelernt haben.

Roman Pfitzner: Da fällt mir direkt ein Ort von Achim ein. Der macht gerade keine Stadtführungen, das kommt aber bald wieder. Das ist auf meinem alten Arbeitsweg. Das waren ein paar Büsche neben Parkbänken neben dem Kinderspielplatz, wo nie etwas los war. Irgendwann hat Achim mal auf einer Tour gesagt: "Das ist mein alter Bunker. Da habe ich die Drogen gebunkert, die ich hier verkauft habe, in diesen Reifen, in diesen Büschen." Das war auf meinem täglichen Arbeitsweg und ich kannte das gar nicht. Das ist ein sehr unscheinbarer Ort, den ich neu kennengelernt habe, und jetzt muss ich immer daran denken, wenn ich da vorbeigehe.

Was sind das ansonsten für Plätze und Orte, die man bei so einer Stadtführung abklappert?

Pfitzner: Die Orte, die da abgeklappert werden, sind Hilfseinrichtungen wie zum Beispiel von uns, von unseren weiteren Trägern, von Hempels oder von der Diakonie, aber auch von anderen wichtigen Trägern wie der Drogenhilfe, der Stadtmission - also alle Hilfsangebote, die Wohnungslose oder von Armut betroffene Menschen nutzen können, und mit denen die Guides in der Regel Erfahrungen gemacht haben. Das sind die professionellen Seiten. Die andere Seite sind die persönlich wichtigen Orte. Das kann sein: Hier habe ich mal gewohnt, hier ist eine Apotheke, wo ich oft war, die irgendwie wichtig in meinem Leben war. Das können auch Orte sein, an denen sich mit Freunden getroffen wurde, an denen konsumiert wurde, aber auch einfach biografisch wichtige Orte.

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Wie erleben Sie das? Was macht das mit den Menschen, die diese Touren führen? Was bedeutet denen das?

Pfitzner: Ich kann spüren, dass sich bei manchen zum Beispiel, was das Selbstbewusstsein angeht, ganz viel getan hat. Unser Guide Ulli war zum Start vor ungefähr eineinhalb Jahren noch ein bisschen schüchterner, konnte sich schwer vorstellen, vor größeren Gruppen zu stehen, brauchte viel Kontakt und viel Rückhalt von mir oder von anderen Guides bei den Führungen. Mittlerweile kann ich sie ohne Probleme zu einer Podiumsdiskussion schicken und ich weiß, sie macht das gut. Sie kann damit gut umgehen und ist in ihrem Selbstvertrauen gewachsen. Das ist immer ganz schön zu sehen. Für viele andere ist es einfach nur eine gute Tätigkeit. Die Guides machen das ehrenamtlich: sich einzubringen und etwas Sinnvolles zu machen. Ein Guide ist berentet aufgrund seines ehemaligen Konsums und anderer gesundheitlicher Schwierigkeiten. Der ist total froh, dass er bei uns arbeiten kann, weil er das ansonsten gar nicht machen dürfte.

Wie erleben Sie das Publikum, das zu Ihnen kommt? Sind da manchmal Berührungsängste?

Pfitzner: Genau zum Abbau dieser Berührungsängste sind wir da, weil die Gäste wissen sollten: Hier sind Leute, denen können wir alle Fragen stellen, und die meisten werden auch beantwortet. Und wenn nicht, gibt es da einen guten Grund für. Die Gäste zeigen sich oft ergriffen. Viele wussten manchmal gar nicht, wie so ein Alltag aussieht von Menschen, die mit Suchtthematiken zu tun haben, und erfahren da zum ersten Mal authentisch, was das wirklich bedeutet. Ich denke, die können da viel mitnehmen, auch über die verschiedenen Angebote, die wir in der Stadt haben. Ich denke auch, dass sie ganz froh sind, dass es die Angebote gibt und dass sich Leute da professionell mit den Menschen auseinandersetzen können.

Man kann sicherlich auch ganz allgemein mitnehmen, dass es wie so oft nicht die eine Wahrheit, die eine Tour durch die Stadt mit den Highlights gibt, sondern ganz viele Perspektiven. Ist das auch ein Gedanke, den Sie für sich selbst mitnehmen?

Pfitzner: Auf jeden Fall. Das ist auch unser Konzept. Die Führungen werden immer von zwei Guides gemeinsam im Team angeboten. Es wird immer in dieser Konstellation abgesprochen: Wo geht's lang? Das heißt, wer bei uns eine Führung bucht, kann beim nächsten Mal eine ganz andere Führung bekommen, weil zwei andere Guides die Führung machen und unterschiedliche Schwerpunkte haben.

Was motiviert Sie ganz persönlich, sich für dieses Projekt zu engagieren?

Pfitzner: Mich motiviert, dass ich sehe, dass diese Arbeit den Guides gefällt, dass ich sehe, dass sie in ihren Stärken wachsen können. Ich finde es auch immer gut zu sehen, dass es ehrliche Dialogmöglichkeiten gibt für die Gäste, die das Angebot der Führungen nutzen. Oftmals fehlt die Möglichkeit, jemanden mal zu fragen, wie dieses und jenes aussieht. Es macht mir einfach viel Spaß zuzusehen, wenn es bei uns gut läuft. Ich habe mir schon oft bei meiner Arbeit gedacht, dass die von Armut betroffenen oder wohnungslosen Menschen viele Lebensgeschichten zeigen. Das sind Experten in eigener Sache. Die wissen viel und ich habe das Privileg, das zu erfahren. Jetzt haben auch andere Menschen die Chance, dieses Expertenwissen zu bekommen.

Das Interview führte Jan Wiedemann

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