Eine Frau sitzt traurig an einem Weihnachtsbaum und schlingt die Arme um die Knie. © picture alliance / dpa-tmn | Christin Klose
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AUDIO: Macht Einsamkeit krank? Mit Janosch Schobin und Odo Marquardt (40 Min)

Ist Einsamkeit erblich? Soziologe Janosch Schobin im Gespräch

Stand: 02.11.2023 08:10 Uhr

Seit der Corona-Pandemie wird viel über Einsamkeit gesprochen. Doch welche Umstände lösen Einsamkeit aus? Der Soziologe Janosch Schobin erklärt im Philosophie-Podcast Tee mit Warum, dass es auch eine genetische Veranlagung gibt.

Viele Menschen fühlen sich mehr und mehr einsam. Der Soziologe Janosch Schobin forscht zu Einsamkeit als sozialem Phänomen und sieht unter anderem Armut als einen großen Risikofaktor für Einsamkeit. Im Philosophie-Podcast Tee mit Warum schildert er, dass es auch eine genetische Veranlagung für ein intensiveres Einsamkeitsempfinden gibt. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, die ganze Folge finden Sie in der ARD Audiothek.

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Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Macht Einsamkeit krank? Mit Janosch Schobin und Odo Marquardt

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Ist Einsamkeit eine Typfrage?

Janosch Schobin: Ja, bis zu einem gewissen Grad schon. Die psychologische Forschung geht davon aus, dass das Einsamkeitsempfinden zum Teil erblich bedingt ist - so ungefähr zu 50 Prozent. Man muss davon ausgehen, dass die Neigung, Einsamkeit in bestimmten Situationen zu empfinden, von einer individuellen Sensibilität abhängt. Die ist vermutlich zu einem gewissen Teil angeboren. Es gibt Leute, die sind sehr, sehr schnell in sozialen Kontexten einsam und fühlen das auch sehr schnell und intensiv. Es gibt andere, die werden das kaum wahrnehmen. Selbst unter sehr harten sozialen Umständen, mit wenig oder gar keinem sozialen Kontakt, können die über längere Zeiträume trotzdem nicht einsam sein.

Ist das wirklich ein genetisches Phänomen oder spielt da auch die Sozialisation, die Erziehung, eine Rolle?

Schobin: Man vergleicht in solchen Studien in der Regel eineiige mit zweieiigen Zwillingen. Die sind ja unter den gleichen Umständen sozialisiert. Der Unterschied ist, dass die zweieiigen Zwillinge weniger Genmaterial teilen. Daraus kann man das dann extrapolieren. Deswegen gehen die davon aus, dass es tatsächlich genetisch ist. Allerdings ist nicht klar wie: Also es gibt keine einzelnen Gene, die das determinieren, sondern das ist ein sehr komplexes Zusammenspiel - vermutlich mit vielen anderen Dingen im Organismus.

Deswegen ist das eigentlich so eine Kürzel für: Wir wissen nicht, wie das organisch im Gehirn genau abläuft und wie es in die Entwicklung eines menschlichen Wesens reingehört. Aber wir wissen, es nicht nur die Familie, das Umfeld und die Gesellschaft, sondern es ist auch etwas, das einem mitgegeben wird. Das prägt sich dann natürlich unter bestimmten Umständen stärker aus als in anderen. Bloß weil etwas genetisch determiniert ist, heißt das ja noch nicht, dass jeder der diese Veranlagung hat, sie auch entwickelt. Das ist dann ein sehr komplexes Wechselspiel mit der Umwelt.

Was für eine Rolle spielt das Umfeld? Gibt es Menschen, die gefährdeter sind in Einsamkeit zu geraten als andere?

Schobin: Ja, wir kennen einige Risikofaktoren. Alles, was man irgendwie unter die Kategorie Armut fassen kann, ist ein Risikofaktor. Da gehören so Sachen rein wie geringes Einkommen, geringe Bildung. Die eigene Arbeitslosigkeit ist ein gutes Anzeichen für die Entstehung von Einsamkeitsbelastung.

Man kann sich das aber auch gesellschaftsvergleichend anschauen. Ich glaube, dass bei ärmeren Menschen im häuslichen Umfeld viel mehr Stress anfällt. Man hat mehr Belastungen und die wirken sich auch auf die Beziehungen zueinander aus. Die wirken sich darauf aus, dass man mehr Streit mit seinen Eltern hat. Dass man mehr Streit mit seinen Geschwistern hat. Weil man unter diesen härteren Bedingungen etwas mehr die Ellenbogen ausfahren muss.

Eine Sache, wo ich das mit Blick auf das Geschlechterverhältnis untersucht habe, ist die Frage: Wie gut schützen Partnerschaften vor Einsamkeit? In westlichen Gesellschaften ist der Partner einer der besten Schutzfaktoren vor Einsamkeit. Aber wenn man in Gesellschaften guckt, die viel geschlechterungleicher als unsere sind, sieht man, dass der protektive Effekt von Partnerschaften viel geringer ist. Wenn man in ärmeren Milieus guckt, sieht man das auch. Man sieht diesen schwächeren Schutz, weil in den Nahbeziehungen, die eigentlich vor Einsamkeit schützen, vielmehr Sachen sind, die Reibung erzeugen.

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Was würdest du Menschen raten, die einsam sind?

Schobin: Viele Probleme, die Menschen haben, wirken wie individuelle Probleme, aber häufig gibt es ein gesellschaftliches Korsett, das sie stützt. Wenn man erst mal richtig vereinsamt ist und die Einsamkeit noch einhergeht mit Armut, gibt es da viele Schamgefühle. Armut ist schambehaftet, Einsamkeit ist auch sehr schambehaftet. Man igelt sich dann ein und macht die sichtbare Oberfläche klein, damit man nicht viel gesehen wird und man der Scham ausweichen kann. Es ist ziemlich viel verlangt, das zu durchbrechen. Das ist gar keine so einfache Sache. Eine der ersten Sachen, die man machen kann, ist an diese Tabus ranzugehen und die ein bisschen zu knacken. Damit Leute verstehen, dass das nicht etwas ist, woran sie schuld sind.

Unser subjektiver Eindruck ist, dass die Einsamkeit in der Gesellschaft zunimmt. Stimmt das?

Schobin: Es ist immer eine Frage des historischen Vergleichs. Wenn man mich das vor der Pandemie gefragt hätte, hätte ich wahrscheinlich einfach 'Nein' gesagt. Womit will man es vergleichen? Nehmen wir mal als Beispiel die 50er-Jahre. Die 50er-Jahre waren wahrscheinlich das einsamste Jahrzehnt in Deutschland überhaupt. Man hatte diese ganze Kriegsfolgen-Betroffenheit: Viele Menschen hatten den Vater verloren, den Bruder verloren, die Heimat verloren. Da war alles weg. Nach allem, was wir wissen, sind das alles Einsamkeit auslösende Stressoren. Warum sollten die 50er-Jahre weniger einsam gewesen sein als die 90er oder die 2000er: Das ist schwer zu erklären.

Corona hat das verändert. Wir haben in den Statistiken gesehen, dass die Einsamkeitsbelastung während der Pandemie sehr stark nach oben geschnellt ist. Das normalisiert sich jetzt wieder. Aber es ist noch nicht eindeutig, ob da nicht etwas zurückbleibt. Ob es nicht durch die Pandemie eine gewisse Gruppe von Menschen gibt, die dauerhafte Einsamkeitsempfindungen entwickelt haben, sich vielleicht schon sehr weit aus dem sozialen Leben zurückgezogen hat. Unter Umständen ist das etwas, das jetzt noch nach der Pandemie für ein Jahrzehnt oder länger da bleibt.

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Wie wird die Einsamkeitsbelastung in der Forschung festgestellt?

Schobin: Es gibt unterschiedliche Befragungsmethoden. Die sind nicht immer super genau - das muss man ehrlicherweise sagen. Was über lange Zeiträume gemacht worden ist: Dass man die Zustimmung zu Aussagen wie "Ich fühle mich oft einsam" erfragt. Es gibt aber auch komplexere Erfassungsmethoden, wo man viele kleine Fragen stellt. Da sind dann solche Statements, wie 'Mir mangelt es an Geselligkeit' oder 'Ich habe das Gefühl, nicht dazuzugehören'. Also man fragt unterschiedliche Statements zu der Empfindung, der Qualität und der Quantität sozialer Bindungen ab. Darüber probiert man dann ein genaues Bild zu kriegen. Das wird seit kürzerem auch in Bevölkerungs-repräsentativen Umfragen gemacht.

Was dann schwierig ist, ist, wie man daraus die 'Kategorie der Einsamen' bildet. Da ist es so, dass man im Moment einfach nur einen Schnittpunkt setzt, der irgendwie plausibel ist. Einsamkeit ist ja per se ein kontinuierliches Phänomen. Man kann sehr einsam sein oder sehr wenig einsam sein. Man kann oft einsam sein oder mal ab und an im Alltag einsam sein. Die Einsamkeit selbst hat auch Intensitäten: Das kann wahnsinnig stark sein, kaum zu ertragen oder nur so einen ganz milder Stachel im Fleisch. Was wir fragen ist letzten Endes viel gröber. Im Moment ist es so, dass man anhand von Vergleichsdaten irgendwo einen Schnitt setzt, um diese 'Kategorie der Einsamen' für eine statistische Berichterstattung zu schaffen.

Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Tee mit Warum - Die Philosophie und wir | 04.11.2023 | 13:00 Uhr

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Zeitgeschichte

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