Eine Frau mit Kopftuch und dem Schriftzug "Justice pour Nahel" auf dem T-Shirt. © picture alliance/dpa/MAXPPP | Thomas Padilla
Eine Frau mit Kopftuch und dem Schriftzug "Justice pour Nahel" auf dem T-Shirt. © picture alliance/dpa/MAXPPP | Thomas Padilla
Eine Frau mit Kopftuch und dem Schriftzug "Justice pour Nahel" auf dem T-Shirt. © picture alliance/dpa/MAXPPP | Thomas Padilla
AUDIO: Die fragile Gesellschaft: Frankreich (4 Min)

NachGedacht: Die fragile Gesellschaft in Frankreich

Stand: 14.07.2023 18:36 Uhr

Die brodelnden Konflikte in der französischen Gesellschaft brechen momentan wieder offen aus. Wie ist eine Gesellschaft dauerhaft zu beruhigen, die ein schweres Erbe trägt, fragt sich Claudia Christophersen.

von Claudia Christophersen

Studien und Umfragen können aufschlussreich sein oder gewaltig danebenliegen. Eine neue Allensbach-Untersuchung hat sich mit dem großen Thema Zuversicht beschäftigt. Aus Anlass des 75-jährigen Bestehens des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg hatte man hier viele Fragen zur bilateralen Zusammenarbeit.

Während die Deutschen in der ihnen eigenen Art eher miesepeterig, zweifelnd in die Zukunft schauen, sich fragen, ob ihr Land wohl weiterhin wirtschaftlich unangefochtener Player im internationalen Wettbewerb bleiben kann, sind die französischen Nachbarn laut der Untersuchung zuversichtlich. Frankreich ist digital fit, bereit für Transformationspläne und insgesamt mit einer gelasseneren Mentalität ausgestattet.

Mit Zuversicht ins Chaos

Fern von theoretischen Umfragen die Bilder vor wenigen Tagen: Ausschreitungen, Unruhen auf den Straßen von Paris, Lyon oder Marseille. Angezündete Autos, geplünderte Geschäfte, zornige und wütende Gesichter: Wie fing das alles an? Die Geschichte ist ungut - egal, wie man sie dreht und wendet. Da rast ein Auto durch einen Vorort von Paris. Die Polizei schießt, der 17-jährige Fahrer stirbt. Die Gewalt eskaliert: nicht nur in Paris, im ganzen Land.

Bürgermeister werden bedroht, fürchten um ihr Leben und das ihrer Familien. Macron, zum Staatsbesuch in Deutschland erwartet, sagt seine Reise ab. Der Ernst der Lage - er ist angekommen. Inzwischen haben sich die Unruhen weitgehend beruhig - Gott sei Dank. Die Nachwehen aber sind spürbar, die Schäden sichtbar, die Politik bilanziert, betreibt Ursachenforschung. Da können Umfragen noch so von Zuversicht schwärmen. Junge Menschen, die in sogenannten Problembezirken leben, fühlen sich trotzdem abgehängt und ausgeschlossen. Ihre Zukunft sehen sie alles andere als zuversichtlich, geschweige denn positiv.

Soziale Herkunft in Frankreich prägt das Individuum

Claudia Christophersen © NDR Foto: Christian Spielmann
Kolumnistin Claudia Christophersen hat Germanistik und Philosophie in Tübingen, Heidelberg und München studiert - und über Hannah Arendt promoviert.

Es sind die "feinen Unterschiede" einer Gesellschaft, denen der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu schon in seinem gleichnamigen Hauptwerk Ende der 1970er-Jahre auf den Grund gegangenen ist. Während seines Militärdienstes in Algerien bekam er ein Gefühl für das Land, für die Sprache, die Kultur, die Menschen und ihren Alltag. Immer wieder zog es ihn auch später für seine Forschungen dorthin. Nicht zuletzt, weil er verstehen wollte, wie die Probleme der Einwanderer in Frankreich, Kolonialismus inklusive, zu analysieren sind.

Bourdieu entwickelt seine Sozialkritik und Theorie über Stil und Geschmack - mit bitterem, ernüchterndem Ergebnis. Allen Hoffnungen auf einen sogenannten philosophisch erdachten Neuanfang schiebt er einen Riegel vor. Individualität zeige sich in eigenen Vorlieben und Verhalten. Welche Musik man zum Beispiel hört, wie man sich kleidet, sich in seinem Zuhause einrichtet, wie man sich gibt, was man isst - alles geprägt durch soziale Herkunft. Ein festgeschnürtes Korsett, das sich nur schwer, wenn überhaupt, aufbrechen und abschütteln lässt.

Illusion einer sozial-gerechten Gesellschaft

Pierre Bourdieu sah die starren Beharrungskräfte, die sich erst recht auswirkten in Vorstädten, in Trabantenbauten, in den Banlieue. Sie seien eine Illusion sozial-gerechter Gesellschaft und würden zum Nährboden für Wut, Zorn, Gewalt. Wie Recht er hatte.

In diesen Tagen meldete sich eine Aktivistin zu Wort: Latifa Ibn Ziaten. "Mutter Courage" der Banlieue wird sie genannt. Sie sprach zu den Eltern der Randalierer: "Bringen Sie Ihre Kinder zur Vernunft: Ihr habt Besseres als Unruhen verdient!". Ihre Worte wurden wohl gehört, die eigentlichen Konflikte werden sie nicht lösen.

Weitere Informationen
Ein Mikrofon auf einem Ständer, im Hintergrund rote und blaue Bühnenbeleuchtung. © Picture Alliance Foto: Britta Pedersen
4 Min

Lyna Punchlyn rappt in Roubaix und kennt die Randalierer

In Roubaix, einer Stadt geprägt von Armut und Unruhen, versucht die Rapperin Jugendliche von der Straße zu holen. 4 Min

Polizisten vor dem Arc de Triomphe in Paris © Christophe Ena/AP
5 Min

Situation in Frankreich: Die gewalttätigen Proteste flauen ab

Von großer Solidarität mit dem Bürgermeister eines Pariser Vororts, dessen Familie Opfer der Gewalt geworden ist, berichtet Carolin Dylla, SR-Korrespondentin in Paris. 5 Min

Polizeikräfte stehen Jugendlichen während Ausschreitungen in Nanterre, außerhalb von Paris, gegenüber. © Christophe Ena/AP/dpa
4 Min

Hitzige Debatten nach den Unruhen in Frankreich

Auf den Straßen des Landes ist eine Woche nach dem tödlichen Schuss eines Polizisten auf einen 17-Jährigen etwas Ruhe eingekehrt. Brisant ist aber ein Vorschlag, die sozialen Netzwerke abzuschalten. 4 Min

 

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 07.07.2023 | 10:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Bildung

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Ein Plakat "Theatertreffen" steht vor dem Eingang des Hauses der Berliner Festspiele in der Schaperstraße. © picture alliance/dpa | Soeren Stache Foto: Soeren Stache

Berliner Theatertreffen startet mit starkem Jahrgang

Gezeigt werden bis zum 20. Mai zehn Aufführungen aus dem deutschsprachigem Raum. Das Spektrum ist so breit wie selten. mehr