Menschen stehen um einen brennenden Haufen Bücher herum © imago
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AUDIO: Ein Feiertag des Buches: 90 Jahre nach der deutschen Bücherverbrennung (11 Min)

Ein Feiertag des Buches: 90 Jahre nach der deutschen Bücherverbrennung

Stand: 10.05.2023 10:18 Uhr

Zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz erinnert Volker Weidermann an jenes dunkelste "Leuchtfeuer der Nacht" - und denkt darüber nach, warum Bücher erneut so gefürchtet werden.

von Volker Weidermann

Es war herrlich! Der Abend lau, die Zeiten neu, nur der Nieselregen drückte etwas auf die Stimmung an diesem Frühlingsabend in Berlin. "Schöne Zeit, schöne Zeit!", jauchzte eine zufällige Besucherin des Opernplatzes zu ihrem Mann, der neben ihr stand. 10. Mai 1933 in Berlin. Es gab etwas zu feiern. Es lag ohnehin schon seit Wochen so eine schöne Euphorie über der Hauptstadt und dem ganzen Land, seit Ende Januar die neue Regierung die Macht in Deutschland übernommen hatte. Die Menschen stürmten geradezu in die neue Regierungspartei, die NSDAP, anderthalb Millionen neue Mitglieder in nur drei Monaten. Es musste zwischenzeitlich ein Aufnahmestopp verhängt werden. So ging das ja nicht weiter. Die Partei war doch nicht das ganze Land, oder? Wollte wirklich jeder Deutsche jetzt plötzlich offiziell Nazi sein? Es war aber auch alles einfach zu schön. Am 1. Mai hatten sich eine Million Menschen auf dem Tempelhofer Flugfeld versammelt, um mit Adolf Hitler unter spektakulären Lichtarrangements den neuen Zusammenhalt des Volkes zu feiern, sich selbst zu feiern, die große neue Zeit, die nun begann. Und auch ausländische Beobachter waren begeistert von dieser neuen deutschen Euphorie. Der französische Botschafter berichtete: "Alles atmet gute, frohe Stimmung, allgemeine Freude. Nichts erinnert an Zwang."

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Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten in Berlin am 10.  Mai 1933 © picture-alliance / akg-images

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Diese Feuer sind nicht unter Zwang angezündet worden

Es ist doch immer wieder gut und wichtig, dass wir uns an den rituellen Trauertagen, an denen wir uns an dunkle deutsche Vergangenheiten erinnern, vergegenwärtigen, wie hell manche dieser Tage waren. Und ganz besonders war der Tag der Bücherverbrennungen in Deutschland, die ja an jenem 10. Mai nicht nur in Berlin, sondern in so gut wie jeder deutschen Universitätsstadt stattfanden. Diese Feuer, die für viele Autoren tödliche Folgen hatten, die unter dem Vorwand, den deutschen Geist zu feiern und zu schützen, in Wahrheit geistfeindlich und barbarisch waren - die waren für viele Deutsche einfach ein Fest. Diese Feuer sind nicht unter dem Zwang einer vom Mars oder sonst woher abgeworfenen Regierung angezündet worden. Und die Werke unserer besten, klügsten, unterhaltsamsten, schon damals ruhmreichsten Autoren sind nicht von bösartigen Regierungsstellen eingesammelt, dem Feuer übergeben und vernichtet worden. Nein, nein. Das waren wir selbst. Das war sehr freiwillig. Das war eine Mehrheit. Das waren junge Männer vor allem, Studenten, Leser, Bibliothekare, der Börsenverein des deutschen Buchhandels - das waren Bücherfreunde wie wir.

Selbst Propagandaminister Joseph Goebbels war von dieser ganzen deutschen Leichtigkeit überrascht. Er hatte erst am Vortag des 10. Mai seine Bereitschaft erklärt, am Scheiterhaufen die Feuerrede zu halten. Er hatte eine öffentliche Blamage gefürchtet. Doch er überwand seine Bedenken, sagte zu und rief im Angesicht der Flammen auf dem Opernplatz: "Als am 30. Januar dieses Jahres die nationalsozialistische Bewegung die Macht eroberte, da konnten wir noch nicht wissen, dass so schnell und so radikal in Deutschland aufgeräumt werden könnte." Ja. Es ging schrecklich leicht. Es ging beinahe von selbst.

Das schwache Fundament der Zivilisation

Ich finde es wichtig, an Tagen wie diesen uns an diese Leichtigkeit zu erinnern von damals. Wie leicht Bürger eines sogenannten zivilisierten Landes plötzlich, wie unter Hypnose, ihre besten Bücher ins Feuer trugen, als sei das nun mal eben so. Wie schwach das Fundament der Zivilisation in Wahrheit ist, auf dem wir, scheinbar stabil und für alle Zeiten fest, täglich stehen. Wie wenig wir unser selbst gewiss sein können und sollten. Denn - das ist alles gar nicht lange her. 90 Jahre. Einige, die damals Kinder waren, leben heute noch.

Ich finde es wichtig, nicht wohlfeil sich selbst postum zum heutigen Helden zu erklären, der man wahrscheinlich damals gewesen wäre, und sich in Posen des Widerstands hineinzuträumen, die man in Wahrheit wahrscheinlich niemals eingenommen hätte. Erich Kästner, der selbst dabei war, als seine Bücher brannten, hat sich später selbst immer wieder gefragt, warum er nichts getan hat damals. Warum er nur die Faust in der Tasche ballte, statt sie empört emporzurecken. "Warum erzähle ich das?", fragte er sich. Und antwortete: "Weil keiner unter uns und überhaupt niemand die Mutfrage beantworten kann, bevor die Zumutung an ihn herantritt. Keiner weiß, ob er aus dem Stoff gemacht ist, aus dem der entscheidende Augenblick Helden formt."

Ich finde außerdem wichtig, heute an einige von denen zu erinnern, deren Namen tatsächlich durch das deutsche Feuer von damals aus unserem Gedächtnis gebrannt wurden. Die aus der nationalen Erinnerung getilgt wurden, weil sich nach dem Krieg kaum noch jemand ihrer besann. Ich möchte wenigstens einige von ihnen kurz aufrufen, sodass wir ihre Namen noch einmal hören. Sie waren Heldinnen und Helden: Maria Leitner, Arthur Holitscher, Lisa Tetzner, Ludwig Rubiner, Rahel Sanzara, Rudolf Geist, Adrienne Thomas, Alex Wedding, Ernst Ottwald, Eva Leidmann, Armin T. Wegner und viele, viele andere.

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Die Angst der Unterdrücker vor der Macht der Literatur

Besonders wichtig ist mir auch, von der Macht zu sprechen und von der Angst. Von der Macht der Literatur, die so einflussreich erschien, so wirksam auf die Fantasie, das Denken der Menschen, dass alle, die die neue Macht beschworen und auf sie hofften, jene Gegenmacht des Geistes für alle Welt sichtbar in Flammen aufgehen lassen wollten. Ich denke immer, wenn ich die Bilder der Flammen von damals wiedersehe: Das ist doch nichts anderes als eine weithin sichtbare Demonstration der Macht der Literatur. Die neuen nationalen Führer hatten Angst. Angst vor der Macht der Fiktionen. Angst vor den literarischen Gegenwelten. Angst vor dieser widerständigen Kraft der Bücher. Warum sonst sollte man so einen Zinnober veranstalten? So einen leuchtenden Gegenzauber in den Nachthimmel zeichnen? Ja - auch wenn die Deutschen in Massen in die neue Partei stürmten, so blieb bei diesen Machthabern doch stets der Zweifel lebendig, ob sie sich auch auf diese Leute würden wirklich verlassen können. Und der Zweifel und die Anregung zum Selberdenken und Sich-selber-Finden und das individuelle und un-formierte, eigensinnige Denken - das steckte von jeher in dieser unheimlichen Welt der Literatur. Die mussten brennen und zu Asche werden. In der irren Hoffnung, sie damit aus dem Land, ja aus der Welt zu schaffen. Voodoo-Zauber der deutschen Furcht. In Wahrheit: ein Mahnmal der Angst. Am Ende - vergeblich. Wie der große, verbrannte bayrische Volksdichter Oskar Maria Graf damals voller Selbstgewissheit schrieb: "Verbrennt die Werke des deutschen Geistes! Er selbst wird unauslöschlich sein wie eure Schmach!"

Berlin als Zufluchtsort vor autoritären Mächten

Und damit in die Gegenwart. Die Schmach ist noch lebendig und auch die Macht. Im Februar letzten Jahres versammelten sich kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine Schriftsteller*innen und Intellektuelle auf eben jenem Platz in Berlin, wo 1933 die Bücher brannten und heute eine leere in den Boden eingelassene Bibliothek an die Feuer von damals erinnert. Sie beschworen die Kraft der Worte und des Widerstandes. Sie erinnerten an die Schmach von damals, die sie als Auftrag und Energiequelle und als Ermächtigung im Jetzt begriffen. Sie standen auf gutem Grund. Wie auch all jene anderen Autor*innen, die in unserer Zeit in Deutschland, vor allem in Berlin Zuflucht gefunden haben. Zuflucht vor jenen autoritären, kriegslüsternen Mächten, die die Literatur noch heute fürchten. Menschen wie Abbas Khider aus dem Irak, die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch aus Belarus, Sasha Burchuladze aus Georgien, der das Berlin von heute in einem seiner Bücher einmal "die Notfallapotheke der Welt" nannte, weil hier so viele Menschen Zuflucht finden.

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Ein Buch befreite Can Dündar "aus der Hölle"

Oder Can Dündar, der lange Zeit in der Türkei in Isolationshaft saß und sich dort lesend an einen großen verbrannten österreichischen Dichter und dessen letztes Buch erinnerte: an Stefan Zweig und dessen "Schachnovelle", in der der Held die Isolationshaft nur aufgrund eines Buches überlebte, das er in höchster Not fand und auswendig lernte. Was für eine Kraft gab Dündar nun jenes Buch von Zweig. Dündar schreibt: "Die Erzählung von der Geschichte eines Buches, das einen isolierten Gefangenen ans Leben bindet, befreite ein Dreivierteljahrhundert später einen in einem anderen Gefängnis einsitzenden Gefangenen aus der Hölle." Dündar widerstand. Und lebt heute als mutiger Kämpfer für die Freiheit, gegenwärtiger Leser Stefan Zweigs und später Erbe des Feuers vom Opernplatz in Berlin. Gefürchtet von den Machthabern in der Türkei. Denn das hat er in der Isolationshaft gelernt: "So sehr diese Kraft (der Literatur) den Eingesperrten ermutigt, so sehr lehrt sie den Einsperrenden das Fürchten."

Und so erinnert uns der 10. Mai in jedem Jahr aufs Neue an die Macht der Literatur. Und die Angst der politisch Mächtigen vor den Fiktionen. Der 10. Mai - er ist ein Feiertag des Buches.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 06.05.2023 | 13:00 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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