Kolonialismusforscher Jürgen Zimmerer. © picture alliance/dpa Foto: Michel Dingler
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AUDIO: Causa Aiwanger: "Ein verheerendes Signal von Markus Söder" (7 Min)

Causa Aiwanger: "Ein verheerendes Signal von Markus Söder"

Stand: 04.09.2023 17:58 Uhr

Hubert Aiwangers Verhalten in der Flugblatt-Affäre schätzt er als "fatal", Markus Söders Reaktion als "verheerend" ein. Im Interview beklagt der Historiker Jürgen Zimmerer eine Schlussstrich-Mentalität und einen Rechtsruck in Deutschland.

Es sah aus wie ein Showdown am Wochenende - aber es war keiner. Weder hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder seinem Stellvertreter Hubert Aiwanger das Misstrauen ausgesprochen oder ihm gar den Rücktritt nahegelegt, noch hat er in dessen Verhalten Entlastendes wie eine aufrichtige Entschuldigung, Reue oder transparente Aufklärung wahrgenommen. Söders Entscheidung lautet: Es bleibt einfach alles, wie es ist.

Was sagt die Flugblatt-Affäre über die Erinnerungskultur aus?

Und das gilt auch für Aiwangers Verhalten: Er spricht weiterhin von einer "Schmutzkampagne" von Teilen der Presse gegen ihn, droht der "Süddeutschen Zeitung" sogar mit möglichen rechtlichen Schritten. Aiwanger will einerseits aus dem Ereignis aus der Schulzeit gelernt haben - kann sich andererseits jedoch nicht erinnern, sobald es konkrete Fragen gibt. Neben Fragen nach der Erinnerung wirft die Causa Aiwanger auch Fragen nach der Erinnerungskultur auf. Dazu ein Gespräch mit Prof. Dr. Jürgen Zimmerer, Historiker und Lehrstuhlinhaber an der Universität Hamburg.

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Herr Zimmerer, wie glaubwürdig finden Sie die Aussagen Hubert Aiwangers zu nahezu jeder der 25 Fragen an ihn, sich nicht erinnern zu können, wenn er doch zugleich von einem "einschneidenden Erlebnis für sich" spricht?

Jürgen Zimmerer: Nun ja, die 25 Fragen sind nicht der Inbegriff der Intellektualität und der Ernsthaftigkeit. Und die Antworten, die Aiwanger darauf gibt, sind eigentlich eine Bloßstellung des bayerischen Ministerpräsidenten. Er antwortet ja auf nichts. Er kann sich nicht erinnern, was passiert ist, weiß aber, es hat ihn tief geprägt und eigentlich hat er ja nichts falsch gemacht. Wenn überhaupt, war es einfach ein Scherz aus der Jugend, den er jetzt nicht mehr so gut findet. Das ist eigentlich angesichts der Schwere dessen, worüber wir reden, völlig unangemessen. Er zeigt im Grunde, dass er jetzt wieder voll die populistische Karte spielt und ganz bewusst die Ressentiments der Leute bedient, die einen Schlussstrich haben wollen. Und der ist jetzt in gewisser Weise von Markus Söder abgesegnet worden.

Ich finde das ganz fatal für die deutsche Erinnerungskultur und die Vergangenheitsbewältigung. Ich glaube, wir werden als Historiker*innen noch lange über diese Woche reflektieren. Das Verschieben ist seit Längerem im Gang, aber es hat sich jetzt manifestiert: Man kann das machen, man kommt damit durch, selbst als stellvertretender Ministerpräsident. Im Grunde kann man zu Parteien vom extremen Rand kaum mehr sagen: Dieses und jenes sollte man nicht sagen, denn es widerspricht unseren Lehren aus der Geschichte. Die können jetzt alle auf Söder und Aiwanger verweisen. Das ist fatal.

Am Freitag dieser Woche erscheint ein von Ihnen herausgegebener Sammelband mit dem Titel "Erinnerungskämpfe". Die aktuellen Geschehnisse sind da wahrscheinlich nicht erwähnt - passen Sie denn aus Ihrer Sicht in ein größeres Bild?

Zimmerer: Meine Einleitung habe ich vor sechs Wochen abgeschickt. Darin artikuliere ich: Das mit der Erinnerungskultur ist nicht so erfolgreich, wie wir uns selbst immer einreden. In der Berliner Republik ist seit längerem ein Rechtsruck feststellbar. Es gibt eine Schlussstrich-Mentalität, zum Beispiel im Humboldt-Forum, welches ein steingewordener Schlussstrich ist. Etwas stimmt hier nicht: Ein Teil der Deutschen will diese kritische Auseinandersetzung loswerden und sich eine positive Geschichte zuschreiben. Mit der Aiwanger-Söder-Affäre ist im Grunde genommen sechs Wochen später wie in einem Brennglas zu sehen, was wir analysiert haben. Das ist keine Eintagsfliege, das geht nicht weg. Sondern es gehört in eine Reihe wie die Walser-Rede in Frankfurt, wo man später sagt: Da hat sich etwas ins Nationalistische verschoben. Hier wird eigentlich der Schlussstrich gezogen.

Ihr Historiker-Kollege Wolfgang Benz, langjähriger Leiter des Deutschen Zentrums für Antisemitismusforschung, findet Söders Vorgehen "verheerend". Was sagen Sie dazu?

Zimmerer: Es ist verheerend. Man muss hier auch trennen: Für das, was Aiwanger als 16-Jähriger gemacht hat, kann man ihn nicht für immer verurteilen. Hätte er sich hingestellt und gesagt, "ich habe als 16-Jähriger einen Fehler gemacht, das war fatal", und hätte damit zur Aufklärung dieses NS-verherrlichenden Sumpfes beigetragen, dann könnte man sagen: Da ist jemand geläutert, natürlich verdient er eine zweite Chance. Aber er trägt nicht bei. Er wiegelt eigentlich ab. Er kann sich nicht erinnern. Eigentlich zieht er die ganzen Versuche der Aufklärung über sein Verhalten ins Lächerliche und triumphiert jetzt noch. Das ist schon fatal. Aber dass ein bayerischer Ministerpräsident jetzt sagt, er sei damit zufrieden - das ist wirklich verheerend.

Söder sagte, er habe Aiwanger empfohlen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Was derzeit von ihm und von den Freien Wählern zu hören ist, sind Klageandrohungen gegen die Presse und ehemalige Lehrer und Worte wie "Schmutzkampagne" und "Jugendsünde". Ist das verständlich bei einem Politiker im Landtagswahlkampf?

Zimmerer: Herr Söder kennt ja Herrn Aiwanger. Dass er dachte, dass dieser jetzt demutsvoll seine Vergehen bekennt, ist kaum zu glauben. Das hat Aiwanger ja die ganze Zeit nicht gemacht. Er triumphiert und wird jetzt, so meine Befürchtung, sagen: Seht her, Leute, ich habe Recht gehabt. Man kann das machen. Diese Vergangenheit ist Vergangenheit. Dadurch wird dieser Schlussstrich Bierzelt-fähig und damit im Grunde für ein breiteres Wählerklientel völlig in Ordnung. Man macht Witze über die Aufklärung, man triumphiert und gibt sich als Sieger, wenn man eigentlich im Büßerhemd gehen müsste.

Haben Sie in der Presseberichterstattung in letzter Zeit Anhaltspunkte gefunden für eine "Kampagne"?

Zimmerer: Den Begriff würde ich eher auf das anwenden, was die Verteidiger von Aiwanger im Moment tun. In dem Kulturkrieg, in dem wir uns offensichtlich befinden, ist der rechten bis rechtsextremen Seite offenbar jedes Mittel recht, die Presse, die kritischen Intellektuellen et cetera zu diskreditieren.

Das Gespräch führte Friederike Westerhaus

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Nachmittag | 04.09.2023 | 15:40 Uhr

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