Walforscher Oliver Dirr im Porträt © Frank Stolle

Oliver Dirr erkundet die Weltmeere und entdeckt die Wale

Stand: 18.07.2022 11:41 Uhr

Forscher Oliver Dirr reizt das Abenteuer in den Weltmeeren. Bei all seinen Reisen haben ihn Wale am meisten fasziniert. Diese und weitere Faszinationen über das Meer hat er in dem Buch "Walfahrt. Über den Wal, die Welt und das Staunen" festgehalten.

Kein Tier erfüllt Oliver Dirr so sehr mit Ehrfurcht und Demut wie der Wal. Eindrucksvoll, gewaltig, rätselhaft, aber auch fragil und abhängig von menschlichem Handeln. Oliver Dirr stellt nach seinen Waltouren die Standpunktfrage, regt an, die menschliche Existenz hin und wieder aus dem Fokus der Weltwahrnehmung zu rücken und sich stattdessen voller Staunen auf die kleinen und großen Wunder der Meere einzulassen. Darüber hat er in seinem Buch geschrieben: "Walfahrt. Über den Wal, die Welt und das Staunen".

Der Wal ist das größte Tier, das jemals auf unserem Planeten gelebt hat, wie Sie schreiben.

Oliver Dirr: Richtig. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Wenn man in einem vier bis sechs Meter langen Schlauchboot auf dem Meer treibt und auf einmal taucht ein Tier auf, das vielleicht 20 oder 25 Meter lang ist und 40, 60, 100 oder 200 Tonnen wiegt, das ist schon beeindruckend. Meist sieht man dann ein Stück der Fluke, also die Schwanzflosse, die aus dem Wasser auftaucht. Mich hat immer schon das Thema Größe fasziniert. Ich finde Großwale, zum Beispiel Pottwale, Blauwale und Buckelwale, auch interessanter als Kleinwale. Aber ich habe gelernt, dass die Größe nicht alles ist, sondern dass es auch noch ganz viele andere Sachen gibt, die wahnsinnig interessant werden, je mehr man sich damit beschäftigt.

Also gerade bei Orcas ist es so, dass es viele Familien gibt, die relativ ortstreu sind. Das heißt, die sind zu großen Teilen des Jahres an denselben Orten. Und dann können sich dort auch viele Forschende ansiedeln und viel Zeit mit diesen Tieren verbringen und zuhören. Irgendwann lernen die Forscherinnen und Forscher diese Tiere auseinanderzuhalten.

Man unterscheidet die Orcas anhand von Fotografien, auf denen die Finne abgebildet ist, also die Rückenflosse.

Oliver Dirr: Irgendwann in den 1970er Jahren hat das so langsam angefangen, dass die Orcas gefangen wurden, weil man sie den Menschen in irgendwelchen Aquarien zeigen wollte. Das war eine Zeit, wo die Menschen die Tiere interessant und schön fanden. Sie sind den Leuten auf einmal sympathisch geworden. Plötzlich fing man an, sie im großen Stil aus dem Wasser zu ziehen und in Aquarien zu packen, damit wir auch ganz nah und leicht rankommen. Das wurde vor allem vor Vancouver Island in Kanada gemacht. Als das ein paar Jahre gemacht wurde, wollte die kanadische Fischereibehörde wissen, wie viele Orcas insgesamt noch da sind. Man hatte Angst, dass die Bestände vielleicht komplett leer gefischt wurden. Also musste man einen Weg finden, die Wale zu identifizieren.

Anhand von Fotoidentifikationen können Wale auseinandergehalten werden

Oliver Dirr: Dem Fotografen Michael Bigg ist irgendwann bei seinen Fotos aufgefallen, dass jede einzelne Rückenfinne der Wale anders aussieht und dass er sie auseinanderhalten kann - einerseits an der Form der Rückenfinne und andererseits auf dem weißen Muster, das unter der Rückenfinne zu sehen ist. So können sich die Wale auch selbst gut auseinanderhalten. Und das war die Grundlage für sämtliche Tierforschungen überall auf der Welt, das nennt sich Fotoidentifikation. Anhand der Orcas hat man eben auch herausgefunden, dass man Tiere über Fotos sehr gut auseinanderhalten kann und dass man damit Langzeitstudien machen kann. Heute wird das mit allen möglichen Tieren so gemacht. Die Orca-Bilder von Michael Bigg waren Vorreiter.

Das Interessante am Wal ist auch die Vergangenheit des Tieres. Der Wal ist damals aus den Ozeanen an Land gegangen und wieder zurückgekommen. Denn sein Vorfahre ist ein Paarhufer. An Land hatte er die Möglichkeit, ein sehr viel größeres Gehirn zu entwickeln, als es die meisten Meeresbewohner haben. Deshalb vermutet man auch, dass dieses Tier sehr intelligent ist. Für uns ist das gar nicht greifbar - das macht es vielleicht auch so faszinierend.

Oliver Dirr: Was Sie gerade gesagt haben, gilt für alle Säugetiere. Sie sind an Land entstanden und haben dort Fähigkeiten entwickelt. Dann gab es manche Säugetiere, die wieder ins Meer gegangen sind und versucht haben, dort zu leben. Die Wale sind die Einzigen, die gesagt haben: 100 Prozent Meer. Es gibt andere Säugetiere, die immer mal wieder im Meer leben: Robben, See-Elefanten, aber auch Eisbären - sie gehören auch zu den Meeressäugetieren. Die kommen aber alle wieder an Land oder auf das Eis, um dort zu leben. Wale sind die Einzigen, die gesagt haben, Meer, das ist es - was anderes nicht. Und alle Säugetiere, die es wieder ins Wasser zurückgezogen hat, haben dort Wettbewerbsvorteile vom Land mitgebracht: Sie haben ein gutes Gehör entwickelt, sind Warmblüter geworden und haben ein riesiges Gehirn. All das kann man im Meer sehr gut gebrauchen.

Oliver Dirr: "Wale sind faszinierend"

Oliver Dirr: Im Meer sind die physikalischen Gegebenheiten so, dass Größe wahnsinnig subventioniert wird. Bis zu einem bestimmten Punkt macht es Sinn, im Meer immer größer und größer zu werden. Das ist anstrengend und man muss viel dafür tun, aber die Gesetze der Physik kommen einem da entgegen. Bei uns Menschen ist es so, wenn ich Ihnen sage, denken Sie mal an irgendein Tier, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Säugetier ist, sehr hoch. Meistens denkt man an einen Hund oder einen Affen - es gibt einfach eine gewisse Nähe zu anderen Säugetieren. Obwohl es von Säugetieren auf der Welt nur ein paar tausend Arten gibt, von Insektenarten aber 100.000, die kennt aber kein Mensch. Bei Walen ist es so, dass die Gesänge für uns etwas ganz Faszinierendes sind. Vielleicht auch, weil es so unergründlich ist und weil wir es gar nicht verstehen.

Das Interview führte Martina Kothe.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 18.07.2022 | 13:00 Uhr

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