Werner Schulz während einer Rede, vor ihm ein Mikrofon. © Hendrik Schmidt/dpa

NachGedacht: Werner Schulz - der sanfte Revolutionär

Stand: 11.11.2022 06:00 Uhr

Schon wieder ist einer von den Guten gestorben: der Bürgerrechtler und Politiker Werner Schulz. Kolumnist Alexander Solloch ist traurig.

von Alexander Solloch

Wenn Sie entscheiden dürften, an welchem Tag Sie diese schöne Welt verlassen müssen - welche Wahl träfen Sie? Am Ende liefe es doch wahrscheinlich auf das hinaus, worauf es bei der Menschheit immer hinausläuft: Sie könnten sich nicht entscheiden oder allenfalls für einen Mittwoch im 23. Jahrhundert. Deshalb hat jenes höhere Wesen, das man Schicksal nennt, beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, und wir schauen zu und staunen und trauern.

Werner Schulz: Ein ironischer Melancholiker 

NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke
Alexander Solloch beschreibt, was ihm Werner Schulz bedeutet hat.

Werner Schulz war ein ironischer Melancholiker; er hätte es vielleicht bemerkenswert gefunden, dass ihm nun gerade der 9. November zugewiesen wurde, ihm, dem Bürgerrechtler, dessen Kampf um die Freiheit - der gemeinsame Kampf vieler Einzelner - zum Ende der ostdeutschen Diktatur beitrug. Der 9. November! "Ist okay", hätte dieser Revolutionär vielleicht mit seiner sanften Knorzigkeit gesagt und dann hinzugefügt: "Der 9. Oktober hätte wohl noch ein bisschen besser gepasst, weil es ohne diese gewaltige Demonstration in Leipzig auch nicht den Mauerfall gegeben hätte. Aber andererseits wäre mir der 9. Oktober zu früh gewesen, mindestens einen Monat."

Mindestens zum Bundespräsidenten befähigt

"Mindestens ein Jahrzehnt!" entgegnen die, die ihn schätzten und mochten, diesen ganz besonderen Mann, der am Mittwoch im Alter von 72 Jahren gestorben ist. Worin bestand die Strahlkraft dieses Freiheitskämpfers, dieses Politikers? Er bekleidete ja nie ein hohes Amt, obwohl seine vielen Talente ihn mindestens dazu befähigt hätten, ein hervorragender Bundespräsident zu sein - zur Abwechslung mal einer, der nicht sonntags blumig daherredet, sondern an jedem einzelnen Wochentag Parlament, Regierung und Wahlvolk gepiekst, provoziert, angespornt hätte: Was tut ihr heute für den Erhalt unserer ganz und gar nicht gottgegebenen Demokratie? Werner Schulz strahlte unbequeme Menschenliebe aus.  

Was würden wir opfern für die Demokratie? 

Es mag ja wohl hier und da in der Bundesrepublik Politikerinnen und Politiker geben, die die Demokratie, wo wir sie schon mal haben, zwar ganz prima finden und sogar bei Gelegenheit von feierlichen Ansprachen, die die schützenswerten Vorzüge unserer Staatsform hervorheben, die Mühe auf sich nehmen, Beifall zu spenden, von denen sich aber trotzdem vorstellen ließe, dass sie es sich in anderem historischen Zusammenhang durchaus auch hätten kommod machen können. Und das betrifft natürlich nicht nur Politikerinnen und Politiker, wir alle können uns diese Frage ja mal stellen: Was sind, was wären wir zu opfern bereit, wenn es die Demokratie gilt? Schulz machte in dieser Frage keine Kompromisse, ihn haben die Drangsalierungen durch die DDR-Diktatur nie erniedrigen können. Er ist unbeugsam und aufrecht geblieben; auch später in der bundesrepublikanischen Demokratie, in der der Kampf für die eigenen Überzeugungen nicht mehr existenzbedrohend ist, aber immerhin so anstrengend, dass viele andere ihn nicht wagen.

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"Ein Stück Volkskammer": Auflehnung gegen Kanzler Schröder 

Wie unbeliebt hat sich Schulz immer wieder in den eigenen Reihen, in der grünen Partei, gemacht! Als Kanzler Schröder 2005 zur Erzwingung von Neuwahlen seine eigene Fraktion und die des grünen Koalitionspartners dazu verpflichtete, ihm das Misstrauen auszusprechen, schleuderte Schulz ihm im Bundestag zum Entsetzen seiner Parteifreunde entgegen, hier werde "ein Stück Volkskammer" inszeniert. Das war hart, aber es war gerecht: Diese Demütigung des Parlaments konnte sich dieser Herzensparlamentarier nicht gefallen lassen.

Nehmen wir das Erbe von Werner Schulz an? 

"Wir haben in unserem Wohlfühlgefühl vergessen, dass wir für unsere Demokratie kämpfen müssen", sagte Werner Schulz. Er sagte nicht: "… dass wir für unsere Demokratie Geschäfte machen müssen." Manche sind vielleicht stolz darauf, dass sie schon 2014 Vorbehalte gegen Putin in sich lodern spürten. Schulz warnte bereits vor 20 Jahren davor, sich von diesem Gewalttäter abhängig zu machen.

Der Sinn dieses schönen Lebens bestand nicht darin, anderen zu gefallen, sondern darin, für unsere Freiheit zu kämpfen. Bei allem, was uns täglich so trennt - wollen wir uns vielleicht darauf verständigen: dass wir das Erbe von Werner Schulz annehmen?

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 11.11.2022 | 10:20 Uhr

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