Christiane Peitz © IMAGO / APP-Photo
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AUDIO: Kultur kann Krise. Kann sie? (11 Min)

Kultur kann Krise. Kann sie?

Stand: 08.07.2023 06:00 Uhr

Der Kultur geht es besser, vielleicht sogar gut. Trotzdem sind viele Herausforderungen noch da. Christiane Peitz, Kulturautorin und Redakteurin beim Berliner "Tagesspiegel", blickt auf die Kulturszene im Sommer 2023.

von Christiane Peitz

Frage an ChatGPT: Welches sind aktuell die größten Herausforderungen für die Kultur? Antwort der Künstlichen Intelligenz: die knappen öffentlichen Budgets, die Auswirkungen der Pandemie, die größere Nachfrage nach diversen, inklusiven Angeboten und - die Digitalisierung.

Kann man der computergenerierten Auskunft über den Weg trauen? Bei der Eröffnung des Weimarer Kultursymposiums im Mai zum Thema "Vertrauen" trat der französische Choreograf Yoann Bourgeois mit einer Performance auf. Er nahm eine Treppe nach oben, ließ sich hinterrücks fallen und schnellte wie von Zauberhand wieder hoch, als sei nichts gewesen. Ein Sinnbild für Absturz und Aufstieg, für die Resilienz der Kultur in den Multi-Krisen der Gegenwart? Sind die Künste wieder dicke da, nach Corona, trotz Ukrainekrieg, Energie- und Klimakrise, Inflation und Fachkräftemangel?

Die Kulturbranche hat sich erholt

Die Performance zeigte mit frappierender Eleganz, welche Akrobatik für solche Standhaftigkeit vonnöten ist. Die Welt mag instabil sein, aber das Publikum vertraut den Kulturangeboten wieder und füllt die Säle wie vor der Pandemie. Ist es Nachholbedarf, Eskapismus? Oder vielleicht die Sehnsucht nach Orten, an denen die Zumutungen der Zeitenwende anders verhandelt werden als in den Nachrichten - auf persönlichere, tiefgründigere Weise?

Dass die im letzten Jahr ausgestellte Long-Covid-Diagnose für die Kultur inzwischen so gut wie vergessen ist, hat zunächst einmal praktische Gründe: die Flexibilisierung des Routinebetriebs. Viele Menschen entscheiden sich kurzfristiger bei ihrer Freizeitgestaltung, die Abendkasse hat Konjunktur. Bühnen- und Konzerthäuser haben sich deshalb einiges einfallen lassen, von Last-Minute-Karten und Flex-Abos bis zu kulanteren Umtausch- und Stornoregelungen.

Die Stammbesucherschaft ist wählerischer geworden, bisherige Nicht-Besucher wissen niedrigschwellige Angebote zu schätzen, und der Nachwuchs will umworben sein. Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat Mitte Juni den Kulturpass eingeführt: Alle, die in diesem Jahr 18 werden, erhalten ein vom Bund finanziertes Guthaben in Höhe von 200 Euro für Theater-, Kino- oder Museumsbesuche, Bücher oder Tonträger. Das hilft auch den Kulturproduzenten und -institutionen.

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Nicht alle Probleme sind gelöst

Falls solche Hilfe überhaupt nötig ist: Zum Saisonende melden viele Häuser wieder Rekordauslastungen, vor allem in den Großstädten. Der Corona-Knick sei überwunden, freute sich Christoph Lieben-Seutter, Intendant der Elbphilharmonie, bereits im Februar. Die wegen Netflix und Co. besonders gebeutelten Kinos verzeichnen zwar noch einen Besucherrückgang um gut 18 Prozent, aber der Umsatz liegt im Vergleich zum Vorpandemie-Jahr 2019 nur noch um 1,9 Prozent niedriger.

Dennoch sind längst nicht alle Probleme gelöst. Zum einen gehen viele Besucher mehr auf Nummer sicher, bevorzugen trotz größerer Spontanität eher das vertraute Repertoire und die bekannten Namen. Beim Münchner Filmfest im Juni wünschte sich Regisseurin Doris Dörrie mehr Mut von Seiten des Publikums. Zum anderen brummt zwar der Festivalsommer, aber die Veranstaltungsbranche hat es schwer. Alleine die Personalkosten, vom Catering bis zur Security, sind um 15 bis 50 Prozent gestiegen. Das treibt die Ticketpreise in die Höhe oder führt zu Komplettabsagen, wie zuletzt bei zwei Heavy-Metal-Festivals in Hessen und Baden-Württemberg.

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Die fetten Jahre sind allemal vorbei

Nach wie vor geht es nicht ohne staatliche Extra-Zuschüsse, ohne Fonds wie den Ein-Milliarden-Euro-Topf zur Abfederung der Energiekostenexplosion. Die fetten Jahre sind allemal vorbei. Noch können drohende Etatkürzungen abgewendet werden wie etwa beim Goethe-Institut, aber die Vorwarnungen häufen sich, dass es anders kommen könnte. Joe Chialo, Berlins neuer Kultursenator, sorgte mit seiner Bemerkung, dass "nichts bleibt, wie es ist", für Nervosität in der Hauptstadt. Er werde kämpfen angesichts der überall angespannten Haushaltslage. Aber, so Chialo, "wir gehen harten Zeiten entgegen". Das sind neue Töne in der Kulturpolitik.

Die Kultur ist im Wandel, das ist gut so. Aber sie zeigt sich auch verunsichert zwischen Identitätsdebatten und Instabilität, Antisemitismus-Skandal und Postkolonialismus, erodierenden Demokratien und der zunehmend dämmernden Einsicht, dass die Wohlstandsgesellschaft ihre Ressourcen verprasst hat. Die Zeitenwende schwächt auch die Künste, wenn die Existenzangst sie selber umtreibt, statt dass sie von den Sorgen und Ängsten der Menschen erzählen. Das diesjährige Berliner Theatertreffen zum Beispiel wurde als lahmender, blasser Jahrgang kritisiert. Mancher Kitsch, viel Ringen um gesellschaftliche und künstlerische Relevanz, reichlich Didaktik, so die Bilanzen. Auch dort, wo man sich den Aufbruch auf die Fahnen geschrieben hat, geht es zäh und langsam voran.

Avantgarde sieht anders aus

So sind die Green Deals für mehr Nachhaltigkeit im Film oder für einen klimafreundlicheren Museumsbetrieb zwar in aller Munde. Aber beim wenig klimaeffizienten Neubau des Museums der Moderne in Berlin wurde erst auf öffentlichen Druck hin nachgebessert. Hamburgs Museen haben ihren großen ökologischen Fußabdruck ermittelt und wollen aktiv werden. All das geschieht reaktiv, nicht pro-aktiv. Avantgarde sieht anders aus.

Zum Beispiel bei den Bayreuther Festspielen, die in gut zwei Wochen beginnen. Stephen Gould, der wichtigste Sänger der Saison, hat kurzfristig abgesagt, bei den Wagner-Inszenierungen auf dem Grünen Hügel herrscht immer mehr Mittelmaß statt Exzellenz. Jüngste Meldung: Es sind noch Tickets zu haben. Erstmals in der Geschichte Bayreuths können junge Leute unter 25 vergünstigte Karten erwerben, (sogar für einzelne "Ring"-Abende und nicht mehr nur für den gesamten Zyklus). Nach dem seit Jahren geforderten Neustart in der altehrwürdigen Wagner-Hochburg klingt das allerdings noch nicht.

Machtmissbrauch und die Herausforderungen durch KI

Und worüber wurde zuletzt am heftigsten diskutiert? Über Til Schweiger, Till Lindemann und Rammstein sowie über Benjamin Stuckrad-Barres Schlüsselroman "Noch wach" und den "Boys Club" beim Springer-Konzern: Machtmissbrauch und MeToo in der Film-, der Pop-, der Medienwelt - seit dem Weinstein-Skandal hat sich auch da offenbar wenig getan. Bei der anonymen Befragung eines ARD-Reporterteams zur Lage an den deutschen Bühnen gaben 90 Prozent der 750 Teilnehmenden an, in ihren Häusern mit Machtmissbrauch konfrontiert zu sein. Jetzt will der Deutsche Kulturrat mit allen Sparten einen Verhaltenskodex erarbeiten. Als ob solche Codes of Conduct, Respektworkshops und Beschwerdestellen nicht längst existierten.

Die jüngste Ausgabe der vom Kulturrat herausgegebenen Monatszeitschrift widmet sich ebenfalls der Frage, wie resilient die Kultur ist. Erörtert werden die Katastrophenvorsorge, in Kriegsgebieten oder bei Klimakatastrophen, aber auch die Künstliche Intelligenz. Das Vergnügen an der digitalen Verjüngung eines Harrison Ford im neuen "Indiana Jones"-Blockbuster oder an viral gehenden Fake-Hits der Beatles kann über die Bedrohung für die Kreativindustrie kaum hinwegtäuschen. Seit Anfang Mai streiken die Drehbuchautoren in Hollywood, für eine bessere Vergütung ihrer Urheberrechte und klare Regulierungen beim Einsatz von KI. Sie wollen verhindern, dass Algorithmen Serien-Staffeln kreieren, ebenso wollen Stars wie Meryl Streep nicht von Deep-Fake-Versionen ersetzt werden.

Ein apokalyptisches Science-Fiction-Szenario? Wenn die internationale Gemeinschaft sich auf Kontrollmechanismen einigt, kann die Künstliche Intelligenz auch kreative Energien freisetzen, sie kann die Arbeit erleichtern, statt Arbeitsplätze zu vernichten. Ein schmaler Grat zwischen Chance und Gefahr, und noch ein Zeitenwendepunkt für die Kultur.

Wie bleibt Kultur unverzichtbar?

Frage an ChatGPT: Wie kann die Branche die Krisen überwinden?

Antwort: durch nachhaltige finanzielle Unterstützung, kreative Nutzung digitaler Technologien, Förderung von Diversität und eine starke Kommunikation der eigenen gesellschaftlichen Bedeutung.

Man könnte es auch so formulieren: Nur wenn die Kultur sich nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt und den Ängsten in eigener Sache nicht erliegt, bleibt sie unverzichtbar. Als Ort, an dem vermeintliche Gewissheiten und falsche Harmonien aufgekündigt werden und die Menschen sich ihren Ängsten stellen. Als Freiraum für Fantasien und Fantasmen, das Sinnliche, das Ungemütliche auch. Nur dann wird die Kultur das wiedergewonnene Vertrauen des Publikums auf lange Sicht nicht doch noch verspielen.

Dieser Essay bildet zugleich den Schlusspunkt unserer Gedanken zur Zeit-Reihe, die wir in dieser Form nicht weiterführen werden. Für alle, Jüngere wie Ältere, die auch bei neuen Hörgewohnheiten und in anderen Hörsituationen tiefer einsteigen wollen in große Fragen des Lebens und der Gesellschaft, geht das Nachdenken bei uns weiter: im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.

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Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

Gedanken zur Zeit

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 08.07.2023 | 13:05 Uhr

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