Zwei Mitglieder vom Verein für naturgemäße Gesundheitspflege in Schwerin bei Leibesübungen im Winter 1911 © Stadtarchiv Schwerin

NDR Serie "Was war da los?": Disco-Fieber zur Kaiserzeit?

Stand: 25.11.2023 05:00 Uhr

Auf das Kaiserreich als Obrigkeitsstaat mit seinen strengen Konventionen haben 150 Schweriner um 1900 einfach keinen Bock mehr. Doch sie nehmen nicht nur den John-Travolta-Move vorweg - ihre Ideen sind radikaler. Die NDR Serie "Was war da los?" liefert den Hintergrund.

von Benjamin Unger

Zugeknöpft. Starr. Konservativ. Ihnen ist das alles zuwider. Das Kaiserreich mit seiner von Gehorsam und Militärstaat geprägten Gesellschaft, seinen engen Korsetts und steifen Kragen - etliche Menschen haben Ende des 19. Jahrhunderts genug davon. Es entwickelt sich eine recht freizügige Bewegung, die aber auch mehr ist: "Sie hätten sich ja einfach lässiger, lockerer kleiden können. Aber sie wenden sich von der Zivilisation ab. Radikaler geht es nicht: Wir kleiden uns einfach gar nicht mehr", erklärt Jürgen Overhoff, Professor für Historische Bildungsforschung an der Uni Münster. "Die Anhänger der Freikörperkultur lehnten die Konventionen der Gesellschaft ab und wollten frei sein." Und so entdecken sie den Reiz der Nacktheit: komplett entblößtes Lichtbaden oder unbekleidet in den See springen. Normal seien damals eigentlich körperbedeckende Badetrikotagen, so Overhoff.

Hüllenlos im Freien: Luftbad als "erquickendes Arzneymittel"

Zwei Mitglieder vom Verein für naturgemäße Gesundheitspflege in Schwerin Anfang des 20. Jahrhunderts bei Leibesübungen mit einem Ball © Stadtarchiv Schwerin
Ob ohne oder doch am besten mit sportlicher Betätigung: Hauptsache viel Luft, Licht und bloße Haut, so das Motto des Schweriner Vereins für naturgemäße Gesundheitspflege.

Auch in Schwerin wird es freizügig. Hier wird am 5. Mai 1899 der Verein für naturgemäße Gesundheitspflege gegründet. Die meisten der 150 Mitglieder sind mittlere und untere Beamte sowie Handwerker, wie Bernd Kasten vom Stadtarchiv Schwerin weiß. Sie wollen Erholung und Entspannung, Gesundheitspflege und körperliche Betätigung. Zu diesem Zweck wird in Schwerin ein nach Geschlechtern getrenntes "Licht-, Luft- und Sonnenbad" errichtet. Dort geht es etwas weniger freizügig zu als in vielen anderen Vereinen. In den "Baderegeln" heißt es ausdrücklich: "Beim Baden ist Schambedeckung anzulegen", welche bei den Männern meist aus einer Unterhose oder einer Art Lendenschurz besteht. In jedem Fall wird das Luftbaden wegen seiner erquickenden Wirkung als "Arzneymittel" gelobt. Und so verlegen sie alle Aktivitäten hüllenlos nach draußen: Ballspiele, Turnen, Atemübungen, Gewichtheben, Kugelstoßen.

Naturnaher Lebensstil mit Gleichgesinnten

Historische Mitgliedskarten vom Verein für naturgemäße Gesundheitspflege in Schwerin. © Stadtarchiv Schwerin
Lieber gemeinsam statt allein: Gerne pflegten die Schweriner ihren naturnahen Lebensstil damals im Verein.

"Im Wesentlichen verlief der Betrieb im 'Licht-, Luft- und Sonnenbad' an der Reiferbahn so wie heute im Fitness-Studio oder im Freibad: Jeder kam innerhalb der Öffnungszeiten, wann er wollte - und blieb, so lange er wollte. Wichtig war dabei nur, dass so viel Haut wie möglich der Sonne, dem Licht und der Luft ausgesetzt wurde", sagt Stadtarchivar Kasten. Auch für die Kinder hofft man auf positive Auswirkungen des Licht- und Luftbades auf ihre Gesundheit, sie kommen mit ins Bad.

Die Vereinsmitglieder würden sich in ihren Ansichten nicht großartig von heutigen Anhängern der Naturheilkunde und eines gesundheitsbewussten, naturnahen Lebensstils unterscheiden, erklärt Kasten. "Aber während man einen solchen Lebensstil heute eher privat pflegt, war es damals üblich, sich mit Gleichgesinnten in einem Verein zusammenzuschließen", sagt Kasten. "Eine 'Sekte' waren sie allerdings sicherlich nicht. Auf mich wirken sie rückblickend wirklich eher entspannt."

Neue Lebensfreude mit Sonnenlicht als "Desinfektionsmittel"

Zwei Mitglieder vom Verein für naturgemäße Gesundheitspflege in Schwerin im Winter 1911/12 bauen einen Schneemann © Stadtarchiv Schwerin
Saunagängern von heute sicher geläufig. Um 1900 aber dürfte das unbekleidete Schneemann-Bauen - vor allem ohne Saunagang vorweg - schon eine Besonderheit gewesen sein.

"Die Idee der Luftbäder hat bekannte Anhänger, etwa den Erfinder Benjamin Franklin", sagt Historiker Overhoff. "Auch der Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg sah das Nacktbaden als förderlich für die Gesundheit an." Die Philosophie: Luft und Sonne stärken und reinigen den Körper - Sonnenlicht sei das "beste Desinfektionsmittel". So ist es nicht überraschend, dass der Schweriner Verein sich sehr für die Gleichberechtigung von Naturheilmethoden mit der offiziellen Schulmedizin einsetzt. "Im Vereinshaus im Stephanusstift in der Apothekerstraße fanden im Winter immer 'Belehrungsabende für das Naturheilverfahren' statt", hat der Schweriner Stadtarchivar recherchiert. Und die Schweriner öffnen die Türen, um auch andere zu bekehren: Gegen einen geringen Eintrittspreis ist ihr Bad auch für die anderen Einwohner der Stadt zugänglich. Die "Mecklenburgische Zeitung" wirbt am 15. Mai 1926: "Das Licht-Luftbad befreit wunderbar die Seele von trüben Stimmungen und erhebt den Menschen zu neuer Lebensfreude."

Vegetarisch, alkoholfrei und entspannt

Mitglieder vom Verein für naturgemäße Gesundheitspflege in Schwerin 1906 beim Luftbaden © Stadtarchiv Schwerin
Gruppenbild ohne Dame, aber mit Lendenschurz: Trotz nackter Haut galt es, die Sittlichkeit zu wahren.

Viele Anhänger der Bewegung stählen ihre Körper, machen Sport und sind viel draußen. Und sie lehnen Fleisch und Alkohol ab. Zulauf bekommen sie, weil damals vielen Menschen die Großstadt auf die Nerven geht. Das Leben in den Metropolen wird schneller und lauter: Wissenschaft und Technik machen große Fortschritte. Die Berliner S-Bahn etwa bringt neue und schnelle Mobilität. Und auch die unmittelbare Kommunikation über weite Entfernungen ist nun möglich - mit dem Telefon. "Schnelle S-Bahn statt Pferdedroschke, Telefon statt Brief: Das Leben wird rasant damals. Heute sind wir die Dynamik gewohnt, damals um 1900 war das für viele einfach zu krass: Gift für die Nerven", sagt Historiker Overhoff. "Dann lieber ab in die Natur - etwa zu den Vereinen mit ihren weitläufigen Luft- und Sonnenbädern."

Zwischen Risiko und Nähe zum Nationalsozialismus

Gruppenbild mit Mitgliedern vom Verein für naturgemäße Gesundheitspflege in Schwerin Anfang des 20. Jahrhunderts am Strand © Stadtarchiv Schwerin
Für diese Schweriner Vereinsmitglieder waren Freikörperkultur und Nationalsozialismus offenbar kein Widerspruch.

Mit dem aufkommenden Nationalsozialismus ändert sich das Klima in Deutschland. Die Nazis beäugen das Treiben der Nackten zunächst mit großer Skepsis. Exemplarisch ist etwa das Verbot der Nacktkulturbewegung im Lande Baden. Die Begründung des Innenministers hat der Heidelberger Historiker Frank Engehausen für das Web-Projekt "Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus" recherchiert:

"So sehr es im Interesse der Volksgesundheit zu begrüssen ist, dass immer weitere Kreise, insbesondere auch der großstädtischen Bevölkerung, bestrebt sind, die Heilkraft von Sonne, Luft und Wasser ihrem Körper dienstbar zu machen, so sehr muss die sogenannte Nacktkulturbewegung als eine kulturelle Verirrung abgelehnt werden." Innenminister Karl Pflaumer: Schreiben an die Bezirksämter und Polizeipräsidien des Landes im Juli 1933

Sie sei "eine der grössten Gefahren für die deutsche Kultur und Sittlichkeit". Ein Großteil der vorherigen Freiheiten wird nun wieder einkassiert, Vereine werden verboten oder gleichgeschaltet. Die meisten Schweriner Vereinsmitglieder stehen dem Nationalsozialismus dennoch durchaus positiv gegenüber: 1933 übernimmt der Masseur Franz Ohmann den Vereinsvorsitz. Im Oktober 1934 beendet er einen Vortragsabend mit einem "Sieg Heil auf den Führer", wie das Stadtarchiv herausgefunden hat. "Ohmann wurde vermutlich 1933 Vorsitzender, weil er der NSDAP näher stand als sein Vorgänger", sagt Kasten. "Was in diesem Milieu aber keineswegs ungewöhnlich war, denn schließlich war auch Hitler selbst ein fanatischer Nichtraucher und Vegetarier."

Der Lebensstil überdauert den Verein

Schon 1935 allerdings wird das Luft- und Lichtbad dann abgerissen - weil mehr Platz für das Lazarett benötigt wird. Und auch das Schweriner Vereinsleben endet wenig später. Einige Ideen der Bewegung aber haben Bestand: Verzicht auf Fleisch, Fitness oder Naturbaden.

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