Neubau der Schule in Iserbrook 1949 © Staatsarchiv Hamburg, Signatur 720-1/343-1_10522

Hamburg-Iserbrook: Seit 1949 Schule im Grünen

Stand: 15.03.2024 00:00 Uhr

Im zerstörten Hamburg fehlen nach dem Zweiten Weltkrieg 120 Schulen. Am 15. März 1949 wird der Grundstein für den ersten Neubau in den Westzonen gelegt. Er soll die pädagogischen Ideale der demokratischen Erziehung widerspiegeln.

von Dirk Hempel

Auf der Baustelle an der Musäusstraße in Hamburg-Iserbrook haben sich am 15. März 1949 zahlreiche Menschen versammelt. Ein eiskalter Wind treibt Schnee und Hagelschauer über die Köpfe der Politiker, Pressevertreter und Anwohner mit ihren Kindern, die auf die Grundsteinlegung  für eine Volks- und Mittelschule warten - den ersten Neubau einer Schule in Westdeutschland, wie die Zeitungen damals melden.

Auf der Baustelle versammeln sich die Politiker

Die Senatoren Paul Nevermann (Bau) und Heinrich Landahl (Schule) sind "in dunklen Mänteln und uralten Hüten" erschienen, und "noch gezeichnet von den Hungerjahren", schreibt das "Hamburger Echo". Sie ducken sich unter ihre Regenschirme. Zivilgouverneur Henry Vaughn Berry, der Vertreter der britischen Militärregierung, schlägt den Mantelkragen hoch. "Der Krieg hat uns arm gemacht", sagt Schulsenator Landahl in seiner Rede. "Es wird lange dauern, bis die letzte Klasse ihr eigenes Zimmer hat. Diese Schule wird eine wachsende Schule werden, die sich immer weiter ausbreitet."

Im kriegszerstörten Hamburg fehlen 120 Schulen

Neubau der Schule in Iserbrook 1949 © Staatsarchiv Hamburg, Signatur 720-1/343-1_15805
Im September 1949 werden in Iserbrook zunächst zwei flache Schulbauten eingeweiht, 700 Kinder lernen in zwei Schichten.

Weite Teile Hamburgs liegen nach den verheerenden Bombenangriffen des Zweiten Weltkrieges noch immer in Trümmern. Neben Wohnraum werden vor allem Schulen dringend gebraucht, insgesamt fehlen 3.200 Klassenräume, so haben es die Behörden ermittelt. In den folgenden zehn Jahren werden 250 Millionen Mark in den Schulbau investiert. Schnell muss es gehen, auch in der Heidelandschaft von Iserbrook. Innerhalb von sechs Monaten entstehen dort zwei langgestreckte, rot geklinkerte Pavillons, die für je vier Klassen ausgelegt sind.

Der Leiter des Hochbauamtes plant persönlich

Entworfen hat sie der Leiter des Hochbauamts, der 40-jährige Hans-Martin Antz. Er stammt aus Frankfurt, hat in Darmstadt Bauingenieurswesen studiert und Anfang der 1930er-Jahre als Austauschstudent einige Jahre an amerikanischen Eliteuniversitäten verbracht, wie aus seiner Personalakte im Staatsarchiv Hamburg hervorgeht. Während des Krieges hat er zunächst in Hermann Görings Luftfahrtministerium gearbeitet und ist dann als Direktionsassistent in den Heinkel-Flugzeugwerken in Rostock tätig gewesen. Doch weil Ingenieure gebraucht werden, um die zerstörten Städte wieder aufzubauen, haben die britischen Besatzungsbehörden bei seiner Einstellung in der Baubehörde 1946 keine Bedenken erhoben.

Der Stadtteil Iserbrook nach dem Krieg

Die Siedlung Iserbrook ist noch jung, die ersten Häuser sind dort erst um die Jahrhundertwende gebaut worden. Noch sind nicht alle Straßen gepflastert. Erst in den 1950er-Jahren werden der S-Bahnhof und eine Kirche gebaut. 7.000 Menschen wohnen dort nach dem Krieg, viele von ihnen in den Siedlerhäusern des Reichsheimstättenwerks aus den 1930er-Jahren, Arbeiter und Angestellte vor allem. Dazu kommen die zahlreichen Ausgebombten, Flüchtlinge und Vertriebeneaus den Ostgebieten. Sie leben in einem Lager in der Nähe und in den Behelfsheimen, die noch immer auf einem Teil des Grundstücks an der Musäusstraße stehen.

Schulbau für die demokratische Erziehung

Neubau der Schule in Iserbrook 1949 © Staatsarchiv Hamburg, Signatur 720-1/343-1_15806
Freiluftunterricht gehört von Anfang an in Iserbrook zum pädagogischen Konzept. Jede Klasse hat einen eigenen Zugang zum Garten.

Schon im Krieg haben die Behörden hier auf dem Sportplatz, den die Hitlerjugend für Aufmärsche nutzte, eine Schule geplant. Die Entwürfe, die sich im Hamburger Staatsarchiv befinden, zeigen einen streng gegliederten, düsteren Bau, der mit seinem spitzem Dach, gepflastertem Hof und hoher Fahnenstange an eine Kaserne erinnert. Bauingenieur Antz jedoch entwirft die Gebäude jetzt in einem anderen, freieren Stil. Die Schule, so hat es Boris Meyn in seiner "Entwicklungsgeschichte des Hamburger Schulbaus" festgestellt, sollte "den pädagogischen 'Neuanfang' unterstützen" und den architektonischen Rahmen für die Erziehung "zum Bürger eines demokratischen Rechtsstaates" bieten. Hell sollen die Gebäude sein, kleinteilig, weitläufig und nicht wie die Schulkasernen zuvor Autorität und Macht ausstrahlen. Als "Schule im Grünen" mit großen Fenstern und Zugang zur Terrasse aus jeder Klasse wird die Schule in Iserbrook zudem mit der umgebenden Natur verbunden.

Die Schule hat auch soziale Aufgaben

Die Schulkinder, die jetzt nicht mehr eine Dreiviertelstunde zur nächstgelegenen Schule nach Dockenhuden laufen müssen, staunen bei der Eröffnung am 20. September 1949. In vielen Familien, in den Nissenhütten und Baracken vor allem, herrschen damals noch bittere Not und Enge. "Staunend, fast ehrfurchtsvoll" treten die Kinder in die lichtdurchfluteten Klassenräume, wie sich ein Lehrer der ersten Stunde später erinnert. Viele sehen damals zum ersten Mal Toiletten mit Wasserspülung und Waschbecken. In der Schule erhalten sie täglich ein Mittagessen und einen Löffel Lebertran, und sogar mit Kleidung werden sie versorgt.

Baudirektor Seitz plant den Weiterbau

Doch noch immer reicht der Platz nicht aus. Statt acht müssen 16 Klassen mit bis zu 50 Kindern aufgenommen werden, 700 Schüler, die in zwei, zeitweise in drei Schichten unterrichtet werden. Ein Zimmer für die Lehrkräfte gibt es noch nicht, sie treffen sich auf dem Gang. Verwaltungsarbeiten werden in den Klassenräumen erledigt. Erst 1951 folgt dann der dritte Pavillon. Die weiteren Gebäude plant der neue Baudirektor der Hansestadt, Paul Seitz, ein profilierter Vertreter der Nachkriegsmoderne, der auch für den Campus der Hamburger Universität verantwortlich ist. Er setzt die neuen pädagogischen Erkenntnisse im Schulbau um, die Fachleute in diesen Jahren immer wieder auf Konferenzen diskutieren. Wie Antz bevorzugt er Weitläufigkeit, Transparenz, Auflockerung der Architektur, aber auch der Möbel. Statt fester Bankreihen wie in der "Paukschule" der Kaiserzeit sitzen die Kinder jetzt häufig auf Drehstühlen und an Gruppentischen.

Die wachsende Schule

Neubau der Schule in Iserbrook 1949 © Staatsarchiv Hamburg, Signatur 720-1/343-1_24750
Auf dem Schulgelände befindet sich in den 1950er-Jahren auch ein Teich. Die Beobachtung von Tieren gehört zum Unterrichtskonzept der modernen Schule nach dem Krieg.

Wegen der Größe der Bauaufgabe stehen Sparsamkeit und Rationalisierung im Vordergrund. Seitz entwickelt dafür neben den Pavillons vor allem die Schulkreuze, die noch heute in zahlreichen Hamburger Stadtteilen stehen. Sie werden aus vorgefertigten Teilen in kurzer Zeit errichtet. Bis 1964 werden in Hamburg 159 Schulen gebaut. In Iserbrook bringt erst der dritte große Bauabschnitt 1955 spürbare Erleichterung: ein zweigeschossiges Gebäude für acht Klassen und vier Gruppenräume, Musikpavillon, Verwaltungstrakt, Lehrküche und Hausmeisterwohnung. Eltern, Lehrkräfte, Schulkinder und ein Sportverein richten den alten Sportplatz her, nachdem die Bewohner der letzten Behelfsheime ausgezogen sind.

In den Jahren danach folgen dann noch zwei Turnhallen, eine Holz- und eine Papierwerkstatt, Räume für Handarbeiten und naturwissenschaftlichen Unterricht sowie die Bibliothek. Auch ein Schulkindergarten wird gebaut - und zuletzt die Sportanlage mit Basketballfeld, Volleyballplatz, Sprunggrube und Laufbahn sowie einer großen Wiese für die Aufführung von Volkstänzen.

Kunst und Kultur spielen eine große Rolle

Neubau der Schule in Iserbrook 1949 © NDR Foto: Dirk Hempel
Auch Kunst gehört zur Ausstattung der Schule in Iserbrook, wie das Wandbild "Florales" von Olaf Deimel von 1949.

Zur Eröffnung der Aula 1963 führen die Schülerinnen und Schüler das Märchensingspiel "Tischlein deckt dich" auf, zu dem die Hamburger Komponistin Felicitas Kukuck, die bei Paul Hindemith studiert hat, die Musik geschrieben hat. Überhaupt spielen Kunst und Kultur eine große Rolle. Von Anfang gehören sie neben der Natur, der Pflege von Beeten und Grünanlagen zu den "geheimen Erziehern", den unbewussten pädagogischen Mitteln, auf die die Lehrkräfte vertrauen. Deshalb gestalten Künstler Wandbilder, werden Plastiken auf dem Schulgelände aufgestellt, führen Schülerinnen und Schüler auch in den folgenden Jahren immer wieder Theaterstücke auf.

Die Schule im Grünen hat sich bewährt

Neubau der Schule in Iserbrook 1949 © NDR Foto: Dirk Hempel
Der Schulhof im März 2024 mit den Bauten aus den 1950er-Jahren an der rechten Seite und dem "Esel" von Martin Irwahn von 1959.

Heute ist die Schule in Iserbrook eine reine Grundschule. Rund 260 Kinder lernen dort in den Gebäuden aus der Nachkriegszeit, deren Leichtigkeit und Transparenz noch immer überzeugen. Wie schon in den 50er-Jahren verlegen die Klassen den Unterricht im Sommer gern auf die Terrasse. Sie sitzen dann zwischen Birken und Brombeerhecken, Apfel- und Mirabellenbäumen. Manchmal kommen aus dem Waldgebiet Klövensteen sogar Tiere herüber. Dann können die Kinder Bussarde, Rehe und Fasane aus der Nähe erleben.

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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 04.09.1999 | 19:30 Uhr

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