Ein paar Meter neben der Revolution
"Ich habe nicht sofort begriffen, dass es jetzt so schnell gehen könnte", erinnert sich Tilmann Bünz an den Abend des 9. November 1989. Der junge Journalist ist gerade erst seit einem Jahr bei den Nachrichten im Ersten - und hat an diesem Abend den Job übernommen, die DDR-Nachrichten zu beobachten. In diesen unruhigen Herbsttagen im November 1989 ist die Pressekonferenz des Zentralkomitees der SED Top-Thema der Nachrichten - auch wenn es sich um langweilig vorgelesene, oft weltfremde Entschlüsse aus der zerbröselnden Machtzentrale der DDR handelt. Doch was an diesem Abend passieren sollte, lässt den jungen Redakteur Tilmann Bünz ganz am Ende der Pressekonferenz aufhorchen. Unkonzentriert und fahrig liest Günter Schabowski, Sprecher des Politbüros der SED, von einem Zettel ab:
"Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch die Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin West erfolgen."
Ist die Grenze offen?
Für Bünz durch und durch verwirrend. "Heißt das nun, dass sich die DDR tatsächlich heute noch öffnet?" rätselt er und befragt einen Kollegen, der schon vor Jahren aus der DDR geflohen war. Nein, da war sich Holm Wiedrich ganz sicher, so schnell könne das gar nicht gehen, dafür sei die DDR viel zu bürokratisch. Morgen, vermuten die Tagesschau-Redakteure gemeinsam, würden sie von den Kollegen aus Berlin Bilder bekommen und einen Beitrag über die neuen Reiseregelungen machen. Genauso schätzt auch Robin Lautenbach in Berlin die Lage ein. Als Redakteur des Sender Freies Berlin (SFB) will er am Abend noch die letzten Bilder von den geschlossenen Grenzübergängen machen. Erst dreht er am Brandenburger Tor und dann postiert er sich an der Invalidenstraße.
Warten am Grenzübergang
NDR Redakteur Thomas Kühn sitzt an diesem Abend in Hamburg im Schnittstudio und arbeitet an einem Porträt über Rita Süßmuth. Als seine Chefin Ulrike Wolf von Schabowskis Pressekonferenz erfährt, schickt sie ihn sofort zum Grenzübergang Gudow, rund 60 Kilometer von Hamburg entfernt. Es ist kurz vor acht Uhr, die Fahrt dauert rund eine Stunde. Kühn legt sich seine Fragen zurecht. Aber würde es überhaupt zu einem Interview kommen? In Gudow angekommen, sieht es zunächst nicht so aus: Lange Zeit verstreicht, ohne dass Menschen von "drüben" am Grenzübergang zu sehen sind. Auch andere Journalisten oder westdeutsche Anwohner haben sich nicht an den innerdeutschen Kontrollpunkt verirrt. Trotzdem harrt Kühn mit seinem Kamerateam in der Nacht aus.
Mit der Kamera am falschen Ort
Seine Kollegen aus Hamburg von den Tagesthemen warten zu dieser Zeit dringend auf Bilder von der Revolution. Um 22.42 Uhr eröffnet Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs die Sendung mit den Worten: "Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen."
Dieser letzte Satz ist falsch. Offen sind nur einzelne Grenzübergänge in Berlin, andere noch geschlossen. Das können die Zuschauer deutlich sehen, denn nun wird zu Robin Lautenbach geschaltet. An der Invalidenstraße bleibt er lange allein, denn hierher kommen noch gar keine Ostberliner. Also interviewt er einige Passanten, die schon von anderen Grenzübergängen berichten können: An der Sonnenallee sei es voll, in Wedding, an der Bornholmer Brücke und am Checkpoint Charly sei auch viel los, erzählen sie. Frustrierend für den Reporter, und so klingt auch sein Schlusssatz für die Tagesthemen: "Hier am Grenzübergang Invalidenstraße haben die Grenzer ihre neuen Anweisungen wohl noch nicht verstanden", sagt er und gibt zurück zu Hanns Joachim Friedrichs in Hamburg.
Knapp neben der Revolution
"Die Revolution startete ohne mich. Ich stand knapp daneben, vielleicht anderthalb Kilometer Luftlinie südlich," schmunzelt Lautenbach heute über die absurde Situation. Technisch war es undenkbar, mit der Außenübertragung umzuziehen - stundenlang hatte es gedauert, die Antenne und damit die Verbindung ins Studio aufzubauen. Nun konnte Lautenbach unmöglich noch einmal von einem anderen Ort aus anfangen, eine Leitung herzustellen. Der Journalist muss warten, bis die Revolution ihn erreicht. Für die Tagesthemen eine schwierige Situation: Ein Großereignis ohne Bilder, auch wenn die Nachrichtenagenturen den Mauerfall schon melden. Ihre letzte Hoffnung ist Gudow.
Die Revolution in Gudow: Ein einsamer Trabi
Gerade wollen Kühn und seine Kollegen wieder einpacken, da heißt es: "Achtung, jetzt kommt ein Trabi!" Und tatsächlich, von Ferne naht der erste Wagen, der an diesem Abend aus Mecklenburg in den Westen will. "Eine Familie reist im Trabant nach Hamburg - Verwandte besuchen." So sah die Revolution am Grenzübergang in Gudow aus. "Die Leute waren überraschend wenig emotional. Wir aber auch: Man konnte das erst noch gar nicht erfassen, was gerade passiert war." Für die Tagesthemen ist diese Live-Schalte ein Glücksfall, für den sogar die Sendung verlängert wird. Erst im Laufe des Abends, so Kühn, dämmert es ihm, dass er gerade einen ganz besonderen Moment erlebt hat. Er muss nämlich in Gudow übernachten, um auch Bilder für die nächsten Tage zu liefern.
Nach der Tagesschau stürmen Bürger die Mauer in Berlin
Doch die Fernsehnachrichten vom Ansturm auf die Grenzposten entfalten ihre Wirkung schnell: Nach der Ausstrahlung der Tagesthemen stürmen Tausende Berliner in Ost und West auf die Mauer zu und erzwingen die Öffnung. Auch an der Invalidenstraße drängen Menschen von beiden Seiten, bis das Tor geöffnet wird. Robin Lautenbach steht plötzlich im Gedrängel und kann endlich Interviews führen. Stundenlang spricht er mit den Berlinern. "Sinnlose Fragen waren das, so nach dem Motto 'Wohin gehen Sie jetzt?', aber die Antworten waren emotional und es war eine Riesenfreude. Einfach ein historischer Moment!", erinnert er sich. Es wird eine lange Nacht und im Nachtmagazin kann die ARD endlich Bilder von der Revolution senden.
"Schön war das"
Auch für Tilmann Bünz wird es spät. Er verfolgt die Pressekonferenz, die Helmut Kohl in Polen gibt und hält Kontakt zu den Reportern vor Ort. "Das westdeutsche Fernsehen hat das Ereignis forciert", glaubt Bünz. "Ohne uns", so ist er sich sicher, "wäre es wohl nicht ganz so schnell gegangen. Wir waren in diesen unsicheren Zeiten eine verlässliche Quelle - uns vertrauten auch die Ostdeutschen."
Erst gegen zwei Uhr nachts ist seine Schicht zu Ende, zu Hause wartete seine Frau Jutta - sie ist überglücklich über die Nachrichten und kann sich den ganzen Abend nicht vom Fernseher lösen. Direkt danach nehmen beide zwei Wochen frei und fahren nach Duderstadt, den Heimatort seiner Frau. Im Nachbardorf Ecklingerode verläuft die Grenze. Das Ehepaar macht sich am Morgen des 17. November dorthin auf, um bei der Öffnung dabei zu sein. "Guten Morgen, die Herren, hieß es ganz förmlich um fünf Uhr morgens von den Grenzbeamten. Auf beiden Seiten waren die Grenzgänger auf eine kleine Feier vorbereitet: Die Ostdeutschen hatten sogar ein Fass Bier mitgebracht." An diesem Tag ist Tilmann Bünz nicht als Journalist unterwegs - Fotos oder Filmaufnahmen macht er nicht. Er feierte mit seiner Familie: "Da war ich einfach Mensch. Schön war das."