Der Grenzgänger
Als im August 1989 die Massenflucht der DDR-Bürger über Ungarn einsetzte, war Jürgen Ritter fernab des Geschehens. Der Fotograf reiste durch Spitzbergen und machte Bilder vom Eismeer und von Gletschern, von Eisbären im Morgenlicht und treibenden Eisschollen vor einem endlosen Horizont. Es sind Fotos voller Poesie, Bilder der Ruhe und des Friedens. Sie sind ganz anders als die Fotos, die Ritter seit Jahren mitten in Deutschland geschossen hatte.
Sein Motiv: Die innerdeutsche Grenze
Jürgen Ritter hatte ein Motiv, das er immer wieder ablichtete: die innerdeutsche Grenze. Seit 1980 war der ehemalige Fernmeldetechniker aus dem niedersächsischen Barum regelmäßig einzelne Abschnitte der innerdeutschen Grenze abgeschritten, zehntausende Fotos sind in dieser Zeit entstanden. Sie zeigen Wachtürme und Grenzsoldaten, Minenfelder und Selbstschussanlagen. Es sind schmerzhafte Dokumente eines unmenschlichen Bauwerks, das Dörfer zerschnitt, Familien trennte und ein Land teilte, Bilder einer Grenze, an der Soldaten auf fliehende Menschen schossen, Füchse dagegen spezielle Schlupflöcher passieren durften. Immer wieder dokumentierte Ritter die perfide technische Raffinesse der Grenzanlagen, die kaum eine Möglichkeit zur Flucht bot: ein Bauwerk von tödlicher Perfektion, erstellt mit deutscher Gründlichkeit.
Wenn es im Gebüsch knackte, kam die Angst
Von der Ostsee bis nach Bayern ging Ritter die rund 1.400 Kilometer lange Grenze ab, erst allein, später aus Sicherheitsgründen in Begleitung von Beamten des Zolls. Immer wieder verspürte er auch Angst, wenn plötzlich hinter ihm im Gebüsch Zweige knackten. Warum er das tat? "Ich wollte das Unrecht dokumentieren und öffentlich machen, man konnte dazu ja nicht einfach schweigen", erklärt Ritter.
Der umtriebige Niedersachse beließ es nicht beim Fotografieren. Er gründete den Verein Grenzopfer, der DDR-Flüchtlingen mit einem zinsloses Darlehen und Sachspenden den Neustart im Westen erleichterte. Immer wieder nahm er DDR-Flüchtlinge bei sich in Barum auf. Dass seine Arbeit ihn persönlich gefährden könnte, erfuhr Ritter 1984 von einem Mitarbeiter des Innenministeriums. Der riet ihm dringend davon ab, weiter mit dem Auto auf der Transitstrecke nach Berlin zu reisen. Er könne verhaftet werden, warnte er den Fotografen. Die Liste der möglichen Straftaten, die ihm die DDR vorwarf, war lang: Fluchthilfe, Spionage gegen die DDR, staatsfeindliche Hetze. Fortan flog Ritter nur noch nach Berlin - und fotografierte weiter.
Von West-IMs ausspioniert
Wie riskant seine Tätigkeit tatsächlich war, wurde Ritter aber erst in aller Deutlichkeit klar, als er 1996 seine Stasi-Akte einsah. Für die DDR-Staatssicherheit galt er als Terrorist, von dem es Anschläge an der Grenze zu befürchten galt. Die Stasi hatte Telefongespräche abgehört, Briefe abgefangen, seine Foto-Ausstellungen samt Einträgen in den Gästebüchern abfotografiert. "Hätte ich all das gewusst, hätte ich das nicht gemacht. Ich hatte ja Familie", sagt Jürgen Ritter heute. Es waren Westdeutsche, darunter ein Lübecker Journalist, die ihn im Auftrag der Stasi ausspioniert hatten, die mitten in der Demokratie für die DDR-Diktatur gespitzelt hatten. Die Tatsache, dass bis zu 30.000 Bundesbürger für die Stasi gearbeitet haben, macht Ritter noch heute fassungslos.
In zahlreichen Städten stellte Ritter seine Fotografien aus. Nicht immer waren seine Bilder gern gesehen. In den 80er-Jahren setzte die Bundesrepublik auf "Wandel durch Annäherung". Viele bundesdeutsche Städte bauten Partnerschaften mit DDR-Städten auf. Bilder, die die Grenze in ihrer ganzen Brutalität aufzeigten und so das Unrechtsregime der DDR entlarvten, waren da politisch wenig gefragt. Doch Ritter ließ sich in seinem Kurs nicht beirren. Während viele bundesdeutsche Politiker das Ziel der Wiedervereinigung längst aufgegeben hatten, erschien Anfang 1989 ein Band mit seinen Fotos und Gedichten. Der Titel wirkt aus heutiger Sicht geradezu prophetisch: "Nicht alle Grenzen bleiben".
Mit dem Mauerfall war Ritters Auftrag erfüllt
Nur wenige Monate später gab die Geschichte Jürgen Ritter recht: Am Abend des 9. November 1989 entwickelte der damals Vierzigjährige gerade Fotos in der Dunkelkammer im Keller seines Hauses. Im Radio hörte er eine unglaubliche Meldung: Die Mauer ist offen. "Ich dachte erst, dass ist ein Scherz", erinnert sich Ritter schmunzelnd. Erst als sich die Nachricht immer wieder in kurzen Abständen wiederholte, ging er hinauf ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Gemeinsam mit seiner Frau verfolgte er die Bilder aus Berlin. Tränen der Freude und der Dankbarkeit flossen.
Gleich am nächsten Tag reiste Ritter nach Berlin. Für den Weg brauchte er viele Stunden, rund um Berlin herrschte Verkehrschaos. Auf der Mauer standen die Menschen und feierten. Aus den Boxen einer Musikanlage dröhnte der Schlager "Marmor, Stein und Eisen bricht". Drei Tage blieb Jürgen Ritter in Berlin, fotografierte die jubelnden Menschen. "Doch eigentlich wollte ich gar nicht mehr." Ritter fühlte, dass sein Auftrag erfüllt war: "Dieser Kampf gegen das Töten war erledigt."
Neues Leben auf dem einstigen Todesstreifen
Doch schon bald zog es Ritter erneut an den früheren Todesstreifen. Er fotografierte dieselben Stellen an der ehemaligen Grenze erneut, stellte sie den alten Fotos gegenüber. Es entstand eine faszinierende Serie von Damals-Heute-Bildern. Sie dokumentieren, wie die deutsch-deutsche Wunde langsam verheilt: Wo bis 1989 Landstraßen im Nichts endeten, Brücken zerstört waren und Zäune Dörfer trennten, ist auf den Bildern der einstige Grenzverlauf kaum noch zu erkennen. Über den früheren Todesstreifen ist buchstäblich Gras gewachsen, Straßen verbinden wieder Ost und West, Häuser wurden gebaut oder auch ein Fußballplatz angelegt.
Heute kämpft Jürgen Ritter dafür, dass das Unrecht des SED-Regimes nicht in Vergessenheit gerät, dass vor allem die jungen Menschen erkennen, welch hohes Gut die Freiheit ist. "Ich möchte, dass ein größeres Bewusstsein entsteht, was eigentlich Freiheit, was Demokratie bedeutet", erklärt Ritter. Für ihn ist es erschreckend, wie wenig viele Jugendliche über den SED-Staat wissen. Deshalb hält Jürgen Ritter Vorträge, zeigt seine Bilder an Schulen, hat eine Multimediaanwendung für Museen mit dokumentarischem Material zur DDR und zur innerdeutschen Grenze entwickelt. Er produzierte zudem einen Dokumentarfilm, in dem eine Schulklasse die ehemalige Grenze per Fahrrad erkundet und so die deutsche Geschichte buchstäblich "erfährt". Und sein riesiges Fotoarchiv mit Bildern der Grenze hat Jürgen Ritter im Internet für jedermann zugänglich gemacht - eine weltweit einmalige Sammlung.
Deutsche Einheit, ganz privat
2007 erhielt Jürgen Ritter für sein Engagement den Deutschen Einheitspreis der Bundeszentrale für politische Bildung. Privat ist für Jürgen Ritter übrigens schon vor Jahren zusammengewachsen, was zusammen gehört. Ende Oktober 1989, kurz bevor sich die Grenze öffnete, hatten er und seine Frau in ihrer Ferienwohnung in Barum eine Familie aus Chemnitz aufgenommen, die in den Westen ausgereist war. Ritters Sohn und die ältere Tochter der Chemnitzer lernten sich kennen, wurden ein Paar. Heute sind sie längst verheiratet, haben zwei Kinder. Seine Enkelkinder sind für Jürgen Ritter vielleicht das schönste Geschenk der deutschen Wiedervereinigung.