1990: Schwerins harter Kampf um den Hauptstadt-Titel in MV
Obwohl Rostock die größte Stadt in Mecklenburg-Vorpommern ist, gewinnt Schwerin am 27. Oktober 1990 das Votum für den Sitz der Landeshauptstadt. Ein Pluspunkt: die Aussicht auf einen Plenarsaal im Schloss.
40 Stimmen für Schwerin, 25 für Rostock, eine Enthaltung - mit diesem Ergebnis endete am 27. Oktober 1990, knapp zwei Wochen nach der ersten Landtagswahl, die Abstimmung der Landtagsabgeordneten über die künftige Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Denn vorausgegangen war dem klaren Votum ein monatelanges Ringen zwischen den beiden Städten.
Weltmeister? Währungsunion? Hauptstadt-Streit!
So waren es nicht die Fußball-Weltmeisterschaft oder die Währungsunion, die im neu gegründeten Mecklenburg-Vorpommern im Sommer 1990 die Schlagzeilen beherrschten, sondern das Tauziehen zwischen Rostock und Schwerin. Vieles sprach anfangs für die Hansestadt Rostock. Dass am Ende dennoch Schwerin das Rennen machte, verdankte es dabei keineswegs dem Zufall.
Rostock wirft den Fehdehandschuh
Bereits am 22. Mai fiel eine wichtige Vorentscheidung. Während des Regionalausschusses der drei Nordbezirke in Rostock-Warnemünde bewarb sich überraschend Rostock als neue Hauptstadt. Eine Studie der heimischen Universität im Gepäck forderten Rostocker die Versammlung auf, einen Volksentscheid für die neue Landeshauptstadt abzuhalten. Noch im Januar zuvor hatte sich Rostock als Freie und Hansestadt positioniert - eine völlige Eigenständigkeit nach dem Vorbild Bremens schien erwünscht zu sein.
Nicht zu viel direkte Demokratie zugelassen
Ein Zeitungsartikel der "NNN" berichtete von emotionalen Diskussionen in Warnemünde. Vertreter aus Schwerin blockierten das Votum, indem sie unter lautem Protest den Saal verließen. Im Hinblick auf die Einwohnerzahl beider Städte (Rostock etwa 250.000, Schwerin 127.000) wäre vermutlich eine Entscheidung für die Hansestadt programmiert gewesen.
Georg Diederich: Strippenziehen für Schwerin
So mussten die Abgeordneten des Landes entscheiden. Und dort hatte Schwerin bereits einen einflussreichen Befürworter: Georg Diederich (CDU) war schnell klar, dass die Entscheidung für Rostock langfristige, negative Folgen für Schwerin und den Westen des Landes haben würde. Der Regierungsbeauftragte für den Bezirk Schwerin hatte sich noch zur Wendezeit aus dem Neuen Forum zurückgezogen und war der CDU beigetreten.
Diederich wird zum "Hauptstadt-Macher"
In seinem autobiografischen Essay "Die Wiedergründung des Landes Mecklenburg-Vorpommern" erinnert sich Diederich an die schwere Aufgabe. Rostock war als Wirtschafts- und Universitätsstandort und größte Stadt im Land natürlich die erste Wahl. Diederich wandte sich nach Neubrandenburg. In mehreren Treffen überzeugte er seinen Fraktionskollegen Martin Brick, Schwerin als Landeshauptstadt zu favorisieren.
Eilig schrieb Diederich einen Entwurf für die Broschüre "Argumente zur Wahl der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern". Mit zahlreichen historischen Bezügen über die herzogliche Geschichte Schwerins als Sitz der Herzöge und dessen 800-jährige Tradition wollte Diederich Punkte sammeln für seinen Plan. Auch wirtschaftliche Überlegungen bezog der CDU-Mann mit ein: Rostock verfügte mit Hafen und Universität bereits über einen wirtschaftlichen und bildungspolitischen Schwerpunkt. Die Stadt habe auch so eine gute Perspektive, zu wachsen, so Diederich. Für seine Rolle wurde er später als "Hauptstadt-Macher" ("SVZ" vom 9. September 2007) gefeiert.
Bertha Klingberg: Die Blumenfrau mit 17.000 Stimmen
Doch ein Schweriner Urgestein mag ebenso Einfluss auf die Entscheidung gehabt haben: Während die Politiker hinter den Kulissen Argumente und Stimmen sammelten, setzte Bertha Klingberg, Blumenbinderin und spätere Ehrenbürgerin Schwerins, ihre Vorstellung von direkter Demokratie in die Tat um. Im Alter von 91 Jahren bekam sie 17.000 Unterschriften für ihre Wahlheimat Schwerin zusammen. Aufgrund dieser Leistung erhielt sie 1993 als erste und bisher einzige den Ehrenring der Landeshauptstadt Schwerin.
Rainer Prachtl: "Ohne Schloss hätte es Schwerin schwerer gehabt"
Auf politischer Ebene wurde der Kampf derweil härter: Immer mehr Stimmberechtigte ließen sich für Schwerin erwärmen - nicht zuletzt dank eines Besuchsprogramms des Aufbaustabs. Diese "Kaffeefahrten" stießen in Rostock auf harsche Kritik, von fragwürdigen Methoden war die Rede. Doch offenbar erleichterte den zukünftigen Abgeordneten der Ausblick aus ihren möglichen Büros das Votum entscheidend. "Wir wollten ihnen den Blick aus ihren Büros ermöglichen, damit sie sagen: Hier will ich bleiben!", erinnerte sich Irmela Grempler vom Aufbaustab vor einigen Jahren im Gespräch mit dem NDR. Auch für den ersten Landtagspräsidenten des Landes, Rainer Prachtl (CDU), war der Blick aus dem Schweriner Schloss eines der ausschlaggebenden Momente im langen Ringen. "Ohne das Schloss hätte es Schwerin viel schwerer gehabt", so Prachtl in den Landtagschroniken des Schweriner Schlosses.
Vom Zankapfel zum "schönsten Landtagssitz Deutschlands"
Was auch immer die einzelnen Vertreter überzeugte: Als sie am 27. Oktober 1990 den Plenarsaal im Schweriner Schloss betraten, waren sie von ihrem Landtagssitz offenbar überzeugt. 40 Stimmen für Schwerin, 25 für Rostock, eine Enthaltung - und als der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seinem Antrittsbesuch im Dezember das Schloss als "schönsten Landtagssitz Deutschlands" bezeichnete, dürfte bei Abgeordneten und Einwohnern von Mecklenburg-Vorpommern jeglicher Streit vergessen gewesen sein.
*Anmerkung: Die Urfassung des Textes stammt aus dem Jahr 2015. Der Autor ist inzwischen nicht mehr für den NDR tätig.