Rügen 1979: Notfall-Geburt im Schneesturm
Jahreswechsel 1978/79: Nach Sturm und extremen Schneefällen ist die Insel Rügen von der Außenwelt abgeschnitten. Bei der hochschwangeren Rotraud Hoge im abgelegenen Posewald haben die Wehen eingesetzt, die Fruchtblase ist geplatzt.
Die Hebamme steckt noch im Sturm fest, sie ist zu Fuß mit ihrem Mann unterwegs: Die beiden haben sich mit einem Seil zusammengebunden, um sich in dem dichten Schneetreiben nicht zu verlieren. Teilweise acht Meter hoch türmen sich die Schneewehen. Als sie endlich bei Familie Hoge eintrifft, kann sie nicht helfen, rät dazu, einen Arzt zu rufen. Auf Skiern bahnt sich der von der Inselhauptstadt Bergen aus den Weg nach Posewald in der Nähe von Putbus. Doch auch der Arzt weiß nur einen Rat: Die Hochschwangere muss dringend in ein Krankenhaus.
Mit dem Schlitten zur Ambulanz nach Putbus
Ehemann Hans-Jürgen Hoge macht sich sofort zu Fuß auf den Weg, organisiert einen Schlitten, ein Bauer hilft mit zwei Pferden. Die freiwillige Feuerwehr schaufelt einen Weg frei. "Meine Frau im Schlitten richtig warm eingepackt und los ging die Fahrt Richtung Putbus. Das waren ungefähr dreieinhalb Kilometer." Dort angekommen, verbringt Rotraud Hoge die ganze Nacht in der Ambulanz. Doch das Baby kann nicht kommen, der Kopf des kleinen Mädchens ist zu groß. Und die Zeit drängt: Inzwischen ist es fast drei Tage her, dass die Fruchtblase geplatzt ist, es drohen lebensgefährliche Komplikationen für Mutter und Kind.
Die Rettung kommt per Helikopter
Die werdende Mutter muss in ein Krankenhaus gebracht werden. Möglich ist das im Schneechaos nur per Hubschrauber. Rotraud Hoge wird auf eine Trage gelegt und zum nahegelegenen Sportplatz gebracht. Dort haben Helfer einen provisorischen Landeplatz freigeschaufelt und mit Fackeln ausgeleuchtet, denn noch immer gibt es keinen Strom.
Mitten in der Nacht auf den 2. Januar 1979 macht sich ein Hubschrauber der Nationalen Volksarmee auf den Weg von Stralsund zur Insel Rügen, um die Hochschwangere zu retten. "Man sah schon beim Anflug auf Putbus die Fackeln. Wir sind dann höher angeflogen und in den senkrechten Sinkflug gegangen. Ab zehn Metern konnte man nichts mehr sehen, weil der Schnee so stark aufwirbelte. Aber es hat geklappt. Wir standen mit dem Hubschrauber im Schnee - und waren heilfroh, als Frau Hoge an Bord war", erinnert sich Pilot Lutz Weibezahl.
Ein Baby als Symbol für den Katastrophenwinter
Der Flug ins Krankenhaus nach Stralsund gelingt ohne Probleme. Dort kommt die werdende Mutter sofort in den OP - Kaiserschnitt. "Meine erste Frage, als sie mir meine Tochter danach brachten, war: 'Ist sie gesund?'", so Rotraud Hoge. Die Ärzte können sie beruhigen: "Sie ist putzmunter." Ein paar Tage später besucht Pilot Weibezahl Mutter und Töchterchen im Krankenhaus. Sein Hubschraubergeschwader hat beschlossen, das kleine Mädchen - es heißt Bettina - zum Patenkind zu nehmen. "Als Erinnerung an die Ereignisse", so Weibezahl. "Und weil das Mädchen letztendlich auch mit unserer Hilfe geboren wurde".
In den folgenden Jahren besuchen sich die Familie und die Männer vom Geschwader regelmäßig, lassen die kleine Bettina im Hubschrauber sitzen und schenken ihr zur Einschulung eine Extra-Schultüte. Bettina wird zu einem positiven Symbol für den Katastrophenwinter 1978/79, der mittlerweile 40 Jahre zurückliegt. Der Hubschrauber von damals steht heute im Marinemuseum auf dem Stralsunder Dänholm.