Mauerbau und Propaganda: Vom Westen entführt? Der Fall Marlies
Als die DDR am 13. August 1961 mit dem Mauerbau beginnt, trennt diese sogar Kinder von ihren Eltern. Die DDR nutzt die Situation für ihre Propaganda und spricht von staatlich organisierter Kindesentführung des Westens. Wie im Fall von Marlies Ernst. Auch der Podcast "Dorf Stadt Kreis" beschäftigt sich mit dem Thema.
Für die damals 13-jährige Marlies Ernst aus Friedland (Mecklenburg) ist es zunächst ein Sommer wie jeder andere. Anfang August 1961 fährt sie zu ihren Großeltern nach West-Berlin. Obwohl die Spannung zwischen beiden deutschen Staaten von Tag zu Tag zunimmt und es Gerüchte gibt, dass die DDR die Grenzen dicht machen wird. Doch Partei- und Staatschef Walter Ulbricht hat noch am 15. Juni versichert: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Für Marlies ist der Ausflug zu ihren Großeltern im Westen nicht ungewöhnlich. Sie verbringt jedes Jahr einen Teil ihrer Sommerferien in Spandau.
Ferien in West-Berlin im Mauerbau-Sommer: "Ich bleibe!"
An den Abend vor dem Mauerbau kann sich Marlies Peter, geborene Ernst, auch 60 Jahre später noch gut erinnern: "Mein Onkel hat abends bei meinen Großeltern geklingelt und gesagt: 'Ich fahre morgen wieder nach Friedland nach Hause. Die munkeln, dass da irgendwas gebaut wird.'" Eigentlich soll Marlies mit zurück. Doch sie will nicht: "Da habe ich gesagt: 'Nö, ich bleibe noch hier. Ich habe noch Ferien.'" Dass Marlies unbedingt bleiben möchte, hat auch mit der angespannten familiären Situation in Friedland zu tun. Wenige Monate zuvor war ihr Vater gestorben - und ihre Mutter war zu dem Zeitpunkt schon wieder in einer neuen Beziehung.
Die Mutter in der DDR - Der Opa bekommt das Sorgerecht
Als die Mauer dann tatsächlich gebaut wird und sich die Nachrichtenlage überschlägt, muss Marlies sich entscheiden: Zurück in die DDR oder die Ferien weiter in West-Berlin verbringen? Sie beschließt, zunächst bei den Großeltern zu bleiben. Dort fühlt sie sich geborgener als zu Hause in Friedland. Ihr Großvater meldet sie bei den West-Berliner Behörden an. Mit Beginn des neuen Schuljahres besucht Marlies eine Schule in Spandau - unweit der Wohnung ihrer Großeltern, wo sie nun offiziell wohnt. Der Kontakt zur Mutter ist auf Briefe beschränkt, denn die Mutter darf wegen des Mauerbaus nicht mehr zu ihr in den Westen kommen. Noch heute erinnert sich Marlies Peter positiv an ihre Zeit in Spandau: "Das war alles sehr schön. Nette Kinder, nette Lehrer. Ich hatte keine Schwierigkeiten, und war vom Stoff her auch ein bisschen weiter wie die da drüben", erinnert sie sich. Ihr Großvater beantragt das Sorgerecht und bekommt es zugesprochen. Alltäglich ist das damals nicht - aber auch nicht ungewöhnlich.
West-Kidnapping? Der Aufmacher in der "Aktuellen Kamera"
Doch Mitte Mai 1962 ist Marlies plötzlich das Top-Thema der "Aktuellen Kamera", der Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens. Mit ernster Mine bittet der Sprecher um die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Es gäbe einen Fall von Kindesraub - geplant von den West-Berliner "Frontstadtbehörden": "Seit August 1961 wird die 13-jährige Marlies Ernst von Westberliner Behörden daran gehindert, zu ihrer Mutter Edith Horstmann in Friedland im Bezirk Neubrandenburg zurückzukehren." Auch die anderen zentral gelenkten Medien der DDR berichten prominent über der Fall. Das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" titelt: "Die Heimat wartet auf Marlies". Und die in Neubrandenburg erscheinende "Freie Erde" fordert: "Schluß mit Kindesraub! Marlies Ernst muss zurück!".
Kindesraub-Propaganda: Marlies ist kein Einzelfall
Kinder aus dem Osten im Westen: Dahinter stehen oft familiäre Dramen. Meist geht es dabei um klassische Sorgerecht-Streits, bei denen ein Elternteil im Osten, der andere im Westen lebt. Die DDR-Propaganda macht daraus - ungetrübt von Fakten - staatlich organisierten Kindesraub. Die angebliche Logik dahinter: Die Bundesrepublik ermuntere Menschen dazu, Kinder aus der DDR zu "entführen", um deren Eltern in den Westen zu locken. An vorderster Front des medialen Systemkampfes steht das sogenannte Komitee zum Schutz der Menschenrechte (später umbenannt in DDR-Komitee für Menschenrechte). Die Organisation gehört zum Umkreis der DDR-Gewerkschaft FDGB und wird vom Star-Anwalt Friedrich Karl Kaul unterstützt. Kaul verhandelt vor westdeutschen Gerichten und holt die Kinder im "Erfolgsfall" teilweise persönlich aus dem Westen zurück in die DDR. Wie Trophäen präsentiert er sie im Fernsehen und den Zeitungen.
Im November 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau, spricht Kaul von 587 Fällen, in denen westdeutsche Behörden angeblich widerrechtlich Kinder zurückhalten. Die in Rostock erscheinende "Ostsee-Zeitung" zitiert den Anwalt damals so: "Die staatlich inspirierte, gelenkte und praktizierte massenweise Kindesentführung hat ihren Ursprung in der hemmungslosen Bonner Politik des Kalten Krieges. Dabei werden selbst die quälendsten Sorgen zahlloser Mütter und Väter um das Schicksal ihrer Kinder mit Füßen getreten."
Jugendsenatorin erntet Hass-Kommentar im DDR-Radio
Auch im Fall Marlies werden Kaul und das sogenannte Menschenrechts-Komitee aktiv. Ein Aktionsplan wird erstellt, in dem es vor allem um die mediale Ausschlachtung der Geschichte geht. Die "Aktuelle Kamera" beschäftigt sich mehrfach mit dem Thema. In der Ausgabe vom 27. Mai 1962 behauptet ein Bericht, Marlies "Raub" sei vom West-Berliner Senat geplant gewesen: "Kindesraub - seine Spuren führen zur berüchtigten Westberliner Jugendsenatorin Ella Kay." Die Sozialdemokratin Kay steht immer wieder im Zentrum der DDR-Propaganda und wird zur Zielscheibe eines Hass-Kommentars im DDR-Radio: "Was Ella Kay betrifft, so möchte ich sie sehr gerne, sehr bald in einem Gefängnis sehen. Als eine Kindesräuberin, als eine besonders dreckige und kriminelle Figur des Kalten Krieges. Man sollte sie nicht glücklich preisen, bevor man sie hat sterben gesehen."
Der Brief an die Mutter - grob entstellt im "schwarzen Kanal"
Auch ein Brief von Marlies an ihre Mutter wird Teil der Propaganda-Kampagne. Allerdings wird er nur in Auszügen in der DDR-Presse veröffentlicht. Passagen, die auf den familiären Hintergrund von Marlies Aufenthalt bei ihren Großeltern hinweisen, werden nicht öffentlich gemacht. Der Sinn des Schreibens ist dadurch grob entstellt. Der Chef-Ideologe des DDR-Fernsehens, Karl-Eduard von Schnitzler, hat damit kein Problem. In seiner Sendung "Der schwarze Kanal" nutzt er den Fall Marlies für seine Tiraden auf den Westen. Auch Schnitzler zitiert aus dem Brief nur das, was ihm ideologisch passt. Hintergründe und Details stören dabei offenbar. Zum Beispiel die Tatsache, dass das Spandauer Jugendamt Marlies und ihren Großvater mehrfach vorlädt. Immer wieder wird das Mädchen gefragt, ob sie nach Mecklenburg zurück will. Doch Marlies lehnt immer wieder ab.
Marlies Rückkehr: DDR singt Hohelied auf Mauerbau-Staat
Anfang April 1962 stirbt Marlies Großvater. "Da brach die Welt zusammen," erinnert sich Marlies Peter heute. Angst habe sie gehabt und sich gefragt: "Was soll das jetzt noch werden?" Sie entschließt sich deshalb zur Rückkehr nach Friedland. Am 1. Juni 1962 findet die Übergabe statt. Vereinbarter Treffpunkt ist der S-Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Ihre Mutter kann zur Übergabe nicht kommen, sie ist hochschwanger. Dafür ist die "Aktuelle Kamera" dabei. "Da hast du gedacht, jetzt ist deine Mutter am Bahnhof, deine Schwester am Bahnhof", so Peters. Doch die Mutter ist nicht da. Die Schwester schon - und ein fremder Mann. Der neue Stiefvater. "In dem Alter - kann man sich ja vorstellen - dass das doch einprägend ist."
Von diesen Gefühlen des Mädchens berichtet das DDR-Fernsehen nicht. Vielmehr ist der TV-Beitrag über Marlies Rückkehr eine Jubelarie auf den Mauerbau-Staat: "Heute Nachmittag traf ein Zug ein, in dem ein glückliches Mädchen mit erwartungsvoller Vorfreude saß: die 14-jährige Marlies Ernst. Wieder daheim - welch eine Freude für ihre kleine Schwester Petra und die ganze Familie. Wieder daheim - in unserem Staat, dessen ganze Liebe und Fürsorge seinen Kindern gilt."
Ankunft in Friedland - Propaganda bis auf den Schulhof
Noch am selben Abend gibt es in Friedland einen offiziellen Empfang. Die halbe Kleinstadt ist auf den Beinen. Nach einem Jahr Abwesenheit sehen sich Marlies und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler wieder. Ihnen hatte man erzählt, Marlies habe im Westen sehr gelitten. Doch gequält sieht die gar nicht aus. "Marlies hatte den schicken Haarschnitt, der hier in Friedland noch nicht angekommen war. Die Kleider waren schick, die Pumps waren gut, war schönes Leder. Also es war schon etwas Besonderes", erinnert sich Sabine Günther, eine damalige Mitschülerin.
Zeit im Westen wird in jahrzehntelanges Schweigen gehüllt
Zwei Jahre lang besucht Marlies Ernst noch ihre alte Schule. In der 8. Klasse geht sie freiwillig ab, will so schnell wie möglich auf eigenen Füßen stehen. Über die Monate in West-Berlin wird fortan nicht mehr gesprochen. "Das hat man beendet. Das war Geschichte. Schublade zu und dat ging weiter, das Leben ging weiter", sagt Marlies Peter heute. Erst jetzt - 60 Jahre nach dem Mauerbau - ist sie bereit und in der Lage, ihre besondere Geschichte zu teilen. Eine Geschichte über ein junges Mädchen, das ungewollt zwischen die Fronten des Kalten Krieges geraten ist.