Sendedatum: 27.08.2013 21:15 Uhr

Notärztemangel: Keine Hilfe unter 112?

von Elena Kuch & Alexandra Ringling
Nadine Lindgreen © NDR
Nadine Lindgreen musste dreieinhalb Stunden auf den Rettungswagen warten. Ihre Diagnose: akute Blinddarmentzündung.

Die Situation gleicht einem Albtraum: Als Kerstin Lindgreen nach Hause kommt, findet sie ihre Tochter Nadine am Boden liegend: Die 18-jährige Rostockerin hält sich den Bauch, krümmt sich vor Schmerzen und erbricht sich, wieder und wieder. Die Mutter ist schockiert und reagiert sofort, wählt den Notruf, schildert die Lage. Doch ein Notarzt kommt nicht. Bei der Leitstelle teilt man ihr mit, dass derzeit kein Arzt zur Verfügung stehe, es herrsche Ärztemangel.

Mehr als drei Stunden Wartezeit

Nadine geht es immer schlechter, sie verliert viel Flüssigkeit, wird immer wieder bewusstlos. Voller Sorge wählt ihre Mutter wieder 112 - und bekommt wieder eine Absage. Erst als Kerstin Lindgreen sich in einer Arztpraxis eine Krankenhauseinweisung für ihre Tochter holt, schickt die Rettungsleitstelle immerhin einen Rettungswagen. Dreieinhalb Stunden nach dem ersten Anruf kommt Nadine endlich ins Krankenhaus. Vorgeschrieben ist eine Hilfsfrist von zehn Minuten.

Die Diagnose: Akute Blinddarmentzündung. Der Darm drohte zu platzen. "Die Ärzte im Krankenhaus sagten mir, dass das lebensgefährlich sei, man im schlimmsten Falle sterben kann", berichtet Nadine. Der Schock sitzt immer noch tief. Warum wurde nicht gleich ein Notarzt geschickt? Nahm die Leitstelle den Anruf, die geschilderte Situation nicht ernst?

Dramatischer Ärztemangel im Rettungsnotdienst

Dr. Bert Werner © NDR
Dr. Bert Werner, ärztlicher Leiter der Rettungswache Rostock, gibt an, dass man die Notärzte nur für die "akut lebensbedrohlichen Fälle" vorhalten wolle - und könne.

Zum konkreten Fall will sich die Rettungswache Rostock nicht äußern. Generell betont der Ärztliche Leiter, Dr. Bert Werner, dass man die Notärzte nur für die "akut lebensbedrohlichen Fälle" vorhalten wolle - und könne. "Wenn sie bei Bagatellen gebunden sind, stehen sie bei kritisch kranken Patienten nicht zur Verfügung." Es müsse genau abgewogen werden, wann ein Notarzt herausgeschickt werde, denn deren Zahl sei übersichtlich.

In Rostock gibt es drei Notärzte für 200.000 Einwohner. Damit ist die Stadt noch gut aufgestellt. Dramatischer sieht es in ländlichen Gebieten aus, fast überall im Norden, aber vor allem in Mecklenburg-Vorpommern. Gesundheitsökonom Professor Peter Oberender hat beobachtet, dass das bewährte Notarztsystem vielerorts nicht mehr richtig funktioniert. Der Ärztemangel macht sich im Rettungsnotdienst bisweilen dramatisch bemerkbar. "Die Krankenhäuser leiden an Facharztmangel, folglich können sie nicht mehr Notärzte in dem Maße abstellen, wie das früher der Fall war. Die Ärzte müssen mehr Dienste im Haus absolvieren, für Notarztdienste bleibt da keine Zeit."

Teurer Notdienst

Auch für niedergelassene Ärzte ist der Notarztdienst nur noch wenig attraktiv: 24 Stunden-Schichten, vergleichsweise schlechte Bezahlung. Die Folge: Die gesetzlich vorgeschriebene Hilfsfrist von zehn Minuten etwa in Mecklenburg-Vorpommern kann nicht überall eingehalten werden. Dabei geht es oft um Leben oder Tod. Dass mancherorts überhaupt noch ein Notarzt kommt, liegt an den so genannten Notarztbörsen. Per Mausklick ersteigern Rettungswachen Ärzte, die nicht selten von weit weg kommen und Dienste übernehmen - für viel höhere Honorare als üblich, durchschnittlich 80 Euro in der Stunde.

Dr. André Kröncke © NDR
"Ohne die Notarztbörsen würde in einigen Landstrichen gar nichts mehr gehen," so Dr. André Kröncke.

Je akuter der Dienst zu besetzen ist, desto mehr wird auch verlangt. Zeitweise gehe es dort zu wie auf einem Basar, berichtet ein Arzt. Das Geschäft mit der Notarztnot boomt, wie Dr. André Kröncke vom Marktführer "Notarztboerse.de" bestätigt: "Mir wurde von Rettungsassistenten und Rettungsdienstleitern gesagt, dass ohne die Notarztbörsen in einigen Landstrichen gar nichts mehr gehen würde." Mehr als 13.000 Notärzte vermittelt er im Jahr, rund 4.500 davon in ganz Norddeutschland. Die Nachfrage regelt den Preis - so wird der Notfall auf dem Land teurer. Und am Ende zahlen es die Krankenkassen, sprich: die Versicherten.

Verschwendung ohne Alternativen

Notarztwagen mit Blaulicht © dpa-Bildfunk Foto: dpa
Mit Blaulicht geht es eigentlich ganz schnell. Doch wegen Personalmangels kam es schon zu lebensbedrohlichen Wartezeiten.

Das zuständige Ministerium für Arbeit, Gleichstellung und Soziales in Mecklenburg-Vorpommern räumt auf Anfrage ein, dass es Personalmangel in Krankenhäusern gebe: "Deswegen können Notärzte nicht ausschließlich von Krankenhäusern gestellt werden. Notarztbörsen sind deshalb in Mecklenburg-Vorpommern wie auch in anderen Ländern ein bewährtes Mittel zur Absicherung der notärztlichen Versorgung. Die über Notarztbörsen vermittelten Ärzte verfügen über die erforderliche Qualifikation." Kurzfristig sei die Honorararztlösung hilfreich, sagt Professor Peter Oberender dazu. "Allerdings stopft man jetzt eine Lücke, ohne eine nachhaltige Lösung zu haben. Es ist teuer, es ist praktisch eine Verschwendung." Eine Verschwendung, weil die Alternativen fehlen.

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 27.08.2013 | 21:15 Uhr

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