Hochsensibilität: Wenn Chaos im Kopf herrscht

Stand: 26.12.2023 17:02 Uhr

Hochsensible Menschen empfinden Sinneseindrücke sehr stark. Wie sich das auf den Alltag auswirkt und warum Hochsensibilität nicht nur eine Herausforderung sein muss, erzählt eine Betroffene aus Schleswig-Holstein.

von Tabea Schröder

Lärm, starker Geruch, Berührung, grelles Licht - was für viele Menschen zum Alltag dazu gehört, wird für hochsensible Menschen zur Belastungsprobe. Denn sie nehmen die Reize in ihrer Umgebung intensiver wahr und können kaum Reize ausblenden. "Es fühlt sich so an, als wäre mein Kopf ein Computer, bei dem hunderte Tabs gleichzeitig auf sind. Und alle Tabs brauchen gleichzeitig meine Aufmerksamkeit", so beschreibt Chris Gust aus Kattendorf im Kreis Segeberg ihre Hochsensibilität.

Wenn der Filter im Kopf nicht funktioniert

Chris Gust, Expertin für Hochsensibilität und Angststörungen. © NDR
Aktuelle Studien schätzen, dass 20 bis 30 Prozent aller Menschen hochsensibel sind. Chris Gust ist eine von ihnen.

Normalerweise filtert das Gehirn, welche Reize in einer Situation wichtig sind und die anderen blendet es aus. Bei Hochsensiblen fehlt laut Forscherinnen und Forschern der Ruhr-Universität Bochum vermutlich diese Filterfunktion. Dazu kommt, dass sie nicht nur Reize in der Umgebung, sondern auch die Gefühle ihrer Mitmenschen sehr stark wahrnehmen. Dadurch können selbst Alltagssituationen wie das Einkaufen im Supermarkt zur Erschöpfung führen.

Wenn ich in den Supermarkt komme, bemerke ich zuerst den Temperaturunterschied. Gleichzeitig höre ich die Rollen des Einkaufswagens auf dem Boden schleifen, das Piepsen der Kassen. Ich höre die Gespräche der anderen Kundinnen und Kunden, das Rascheln, wenn Waren in die Einkaufswagen gelegt werden, die Musik, die Werbeslogans - alles zur selben Zeit und in derselben Lautstärke. Ich nehme die Gerüche sehr penetrant wahr: den Bäckerstand, das Parfüm einer anderen Person, die Ware. Das Licht der Neonröhren blendet mich. Das alles ist schon zu viel und wenn ich dann noch ein Kind sehe, was weint, dann kann ich kaum mehr an mich halten." Chris Gust aus Kattendorf über ihre Hochsensibilität

"Sozialer Kater" nach Veranstaltungen

So viele Eindrücke ordnen und verarbeiten zu müssen, kostet Hochsensible schon im Alltag enorm viel Kraft. Veranstaltungen, wie Konzerte oder Feiern, sind noch herausfordernder: zu laut, zu voll, blinkende Lichter. Chris Gust erzählt, dass sie nach solchen Veranstaltungen eine Art sozialen Kater verspürt, sich tagelang erholen muss. "Die Gefühle sind nicht nur in dem Moment unheimlich stark, sondern sie arbeiten quasi in mir nach. Ich brauche viel länger, um Dinge zu verarbeiten und mich an neue Situationen zu gewöhnen."

20 bis 30 Prozent der Bevölkerung sind betroffen

Dass ihr Gefühlsleben intensiver ist, als das der meisten Menschen, war Chris Gust schon früh bewusst: "Schon mein Leben lang weiß ich, dass ich stärker fühle als viele andere. Dass es dafür einen Namen gibt, wusste ich lange nicht. Ich dachte, mit mir wäre etwas falsch." Die Folgen sind für die Betroffenen fatal. "Ich habe immer versucht, mich anzupassen und habe dadurch jahrelang meine Grenzen überschritten. Während andere Mütter von Kindergeburtstagen schwärmten, war ich nach solchen Feiern tagelang erschöpft und schämte mich dafür."

Die Diagnose ist Freud und Leid zugleich

Erst als eine Freundin sie anspricht, ob sie vielleicht hochsensibel sei, begreift Gust, dass sie nicht allein ist mit diesen Gefühlen. Aktuelle Studien, die in der englischsprachigen Fachzeitschrift Translational Psychiatry veröffentlicht wurden, schätzen, dass 20 bis 30 Prozent aller Menschen hochsensibel sind. "Als ich verstand, dass ich hochsensibel bin, wie es im Buche steht, war ich zuerst einmal erleichtert, dass es eine Begründung für meine Gefühle gibt. Gleichzeitig hat mich eine Welle der Enttäuschung ergriffen, weil ich jahrelang dachte, ich sei verkehrt." 

Keine Krankheit, sondern Teil der Persönlichkeit

Hochsensibilität ist keine anerkannte psychische Erkrankung. Vielmehr wird es als Persönlichkeitseigenschaft wie Introversion angesehen. Forscherinnen und Forscher gehen laut einem Artikel des Wissenschaftsmagazins Spektrum von einem Sensibilitätsspektrum aus. Das bedeutet: Jeder Mensch verfügt über die Eigenschaft Sensibilität - in unterschiedlichem Ausmaß. Bei hochsensiblen Menschen ist sie besonders stark ausgeprägt. Die Diagnose, ob man hochsensibel ist, erfolgt über einen Fragebogen: Wer vielen Aussagen im Fragebogen zustimmt, ist wahrscheinlich betroffen. Warum Hochsensible anders wahrnehmen und fühlen, ist aber noch nicht genau erforscht.

Hochsensibilität: Nicht nur eine Belastung

Auch wenn die Begleiterscheinungen von Hochsensibilität für die Betroffenen sehr anstrengend sein können, bringt sie auch positive Aspekte mit sich. In ihrem Umfeld fallen Hochsensible oft durch ihre Empathie und ihre Struktur auf. "Dadurch, dass wir die Stimmung anderer so intensiv wahrnehmen, haben wir in der Regel einen sehr einfühlsamen Umgang mit ihnen", sagt Gust. Zudem erzählt sie, dass Hochsensible ihren Alltag und ihre Umgebung oft stärker strukturieren, um trotz der Reizflut nicht das Gefühl zu haben, den Überblick zu verlieren und um die Reizmenge zu dosieren.

Wie der Alltag mit Hochsensibilität gelingt

Auf einem Handy ist eine App für Hochsensible zu sehen. © NDR
Damit Betroffene sich untereinander austauschen können, hat Gust die App "jumiwi" entwickelt.

Chris Gust arbeitet seit Jahren als Künstlerin und als Coachin daran, dass mehr Menschen von Hochsensibilität erfahren. Denn im ersten Schritt müssen Betroffene verstehen, warum sie anders fühlen, um ihren Alltag an die Hochsensibilität anpassen zu können. Das bedeutet vor allem: Genügend Ruhephasen einzuplanen, um Reize zu verarbeiten und das Nervensystem zu Ruhe kommen zu lassen. Auch Entspannungsübungen wie Meditation oder Yoga, Spaziergänge oder progressive Muskelentspannung können helfen.

Eine App soll helfen

Außerdem ist es für Betroffene wichtig, in ihrem Umfeld Verständnis zu erfahren und ihre Empfindungen offen thematisieren zu können. Das gelinge erst, wenn sie nicht mehr das Gefühl hätten, ihnen würden in der Gesellschaft die Gefühle abgesprochen werden, so Gust. Damit Betroffene sich untereinander austauschen können, hat Gust die App "jumiwi" entwickelt. Auf der Plattform können Hochsensible oder Menschen, die aufgrund einer Krankheit vereinsamt sind, sich über ihre Erfahrungen in einem sicheren Rahmen austauschen und neue Freundschaften aufbauen. Die App ist kostenpflichtig, um die Entwicklungskosten zu refinanzieren.

Für die Zukunft wünscht Chris Gust sich, dass es in der Gesellschaft mehr Verständnis und einen offenen Umgang damit gibt, dass Menschen unterschiedlich wahrnehmen und fühlen.

Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 15.12.2023 | 19:30 Uhr

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