Politische Propaganda: Der Kalte Krieg im Netz
Es ist der 4. Februar 2017. Der französische Präsidentschaftskandidat Emanuel Macron eröffnet den Wahlkampf. Am selben Tag vermeldet die russische Internetseite "Sputnik" um 12.19 Uhr: "Ex-Wirtschaftsminister Macron könnte ein US-Agent sein, der Bankinteressen vertritt." Außerdem greift das Portal das Gerücht auf, dass er "heimlich schwul" sei und "ein Doppelleben" führe. Zitiert wird der französische Abgeordnete Nicolas Dhuicq. Die diffamierenden Unterstellungen laufen exzellent: 17.000 Mal werden sie laut einer Untersuchung der ZEIT binnen weniger Tage in Blogs, Filmbeiträgen und auf Twitter weiterverbreitet.
Doch anders als im US-amerikanischen Wahlkampf schaden diese "Falschnachrichten dem Kandidaten nicht", hat Constanze Kurz vom Chaos Computer Club beobachtet. Zu platt, zu bemüht, zu durchschaubar. Überdies seien "die französischen Wahlkämpfer schon sehr aufmerksam gewesen" - und hätten "gut gegengehalten", sodass die negative Kampagne schnell an Dynamik verlor.
Angst vor russischer Einflussnahme auf Europawahl
Ein positives Beispiel, das vielen Hoffnung macht. Denn die Angst vor russischer Einflussnahme ist groß in Europa, so Thorsten Quandt, der die Forschungsgruppe Propaganda an der Universität Münster leitet. In den nächsten Jahren sind viele Wahlen anberaumt. Besonders gefährdet: die Wahl zum Europäischen Parlament im Frühjahr. Sie sei ein "ziemlich gutes Ziel", bestätigt Quandt, da man in dieser Zeit in 27 verschiedenen Ländern "Desinformationskampagnen fahren könne": "Wenn man Europa schwächen will, ist das ein guter Punkt, wo man ansetzen kann."
Europa will Desinformationskampagnen abwehren
Und so rüsten die meisten Regierungen zum Kampf. Theresa May erklärte schon Ende 2017 in einer flammenden Rede, dass sie "eine sehr einfache Nachricht für Russland habe: Wir wissen, was ihr tut - und ihr werdet damit keinen Erfolg haben." Und nun bereitet sich auch die EU auf den Ernstfall vor. Im Dezember legte sie den "Aktionsplan Desinformation" vor. Dieser Plan sei die Grundlage für ein "Frühwarnsystem", sagt Maja Kocijančič, Sprecherin des Europäischen Auswärtigen Dienstes, das vor wenigen Tagen die Arbeit aufnahm. Es verbinde "in einem Netzwerk" alle entsprechenden Taskforces in den Mitgliedsstaaten.
Propagandaforscher Quandt sieht Strategiewechsel
"Ich glaube, es ist ein Strategiewechsel, den wir hier bei der EU beobachten können", sagt Propagandaforscher Quandt. Man habe bislang versucht, die russischen Einflussversuche "wegzuignorieren", sie vielleicht "auch nicht ernstgenommen". Und jetzt gebe es auf Basis vorhergehender Wahlen in den USA und Frankreich "die Erkenntnis, dass man auf jeden Fall etwas tun muss."
Taskforce prüft Meldungen aus Russland
Bereits seit 2015 beschäftigt der Europäische Auswärtige Dienst eine kleine Taskforce namens EastStratCom. Sie analysiert auf ihrer Internetseite Meldungen aus russischen Medien und weist auf falsche Informationen hin. Die Einheit besteht aus 16 Mitarbeitern, die wahrscheinlich ganz normal an Computern sitzen - doch wir dürfen nicht einmal die Eingangstür zur Abteilung filmen. Diese Verschlossenheit sei typisch für diese neue Zeit, so Quandt. Im Moment gebe es "eine große Angst", weil man gesehen habe, was in vielen Wahlen passiert sei, "aus dieser Angst heraus entsteht natürlich eine Wagenburgmentalität".
Mitgliedsstaaten sollen Initiativen gegen Desinforamtion entwickeln
Im Aktionsplan fordert die EU überdies erstmals die Mitgliedstaaten auf, eigene Initiativen zu entwickeln. In England gibt es schon seit 2015 einen Thinktank namens Integrity Initiative. Sein Motto lautet "Defending Democracy Against Disinformation". Geleitet wird er von Chris Donnelly. Der Militärwissenschaftler hat bei der Nato als Spezialist für Osteuropa gearbeitet. In einem privaten Video sagt er: "Den Kampf gegen Desinformation darf man nicht den demokratischen Institutionen überlassen."
Finanzielle Unterstützung aus London
Die britische Regierung teilt offenbar diese Einschätzung. Sie finanziert das Institut in diesem Jahr mit zwei Millionen Pfund. Donnelly will in vielen Ländern Europas Netzwerke aufbauen. Aus Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern. Ganz geheim, denn - wie es noch Anfang Dezember auf der Internetseite hieß - "diese Arbeit zieht extreme feindselige und aggressive Aufmerksamkeit auf sich von Desinformationseinheiten wie dem Kreml und so hoffen wir, dass Sie verstehen, dass wir anonym bleiben wollen".
Skandal um Thinktank
Im Parlament stießen die Aktivitäten des Thinktanks auf Widerstand, als sie bekannt wurden. Die Initiative hatte kritische Artikel über Labourchef Jeremy Corbyn auf Twitter zitiert, etwa einen, in dem Corbyn als "nützlicher Idiot" Moskaus bezeichnet wurde. In einer Aussprache im Parlament zeigten sich die Politiker entsetzt darüber, dass ein von der Regierung geförderter Thinktank demokratische Abgeordnete "unterminiere". Martin Docherty-Hughes von der Schottischen Nationalpartei fasste das Problem so zusammen: Er sei "ein bisschen beunruhigt, wenn wir in Zukunft nun alle Putin-Versteher in allen Parteien anprangern".
Hacker veröffentlichen geheime Dokumente
Die Öffentlichkeit erfuhr von diesen Angriffen erst, als die Hacker-Gruppe Anonymous im vergangenen November interne Papiere des Thinktanks publizierte. Anonymous bezeichnet den Thinktank im eigens produzierten YouTube-Video als "große Geheimdienstoperation". In den geleakten Papieren heißt es: Das Netzwerk wolle "Desinformation zuvorkommen und bekämpfen und den Informationsraum kontrollieren". Hinter dem Angriff stecken nach nach Angaben des britischen Außenministeriums russische Hacker. Ob Zitate aus den geleakten Papieren dem Original entsprechen oder hinzugefügt wurden, ist bis heute unklar. Der Thinktank hat sich zu diesen Einzelheiten noch nicht geäußert. Seine Internetseite hat er weitgehend abgeschaltet. Dort teilt er nur mit, es laufe "eine Untersuchung".
Quandt fordert Offenheit und Debatte
Dieses Schweigen verstärke den fatalen Eindruck, dass "da im Hintergrund irgendwelche komischen Dinge ablaufen und Geheimdienste die Wahlen zu beeinflussen versuchen", so Quandt. Er fordert eine schnelle Kurskorrektur von allen Handelnden: Die westlichen Demokratien dürften jetzt nicht angesichts der neuen Gefahren aus Russland ihre Offenheit und ihre lebendige Debattenkultur aufgeben: "Wenn wir in dieser Situation letztlich unsere Leitideen verraten, dann sind wir irgendwie verloren."