Ein Gemälde, auf dem die Kieler Gebäranstalt am Wasser zu sehen ist, steht auf einem Tisch.  Foto: screenshot

Zeitreise: Die Vermessung der Geburt

Sendedatum: 01.11.2020 19:30 Uhr

Die Ausstellung "Female Remains" erinnert an die Beckenforschung der Kieler Gebäranstalt im 19. Jahrhundert, in der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Kieler Universität.

Von Thomas Kahlcke

Es gibt kein Bild von ihr. Auch Tagebücher, Briefe oder andere Selbstzeugnisse sind nicht überliefert. Und dennoch wissen wir eine Menge über Wibke Butenschön, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Dienstmagd durch Schleswig-Holstein zog. Der Historiker Dr. Christian Hoffahrt hat Kirchenbücher und Standesamtakten, Volkszählungsbögen und Dienstbücher durchforstet und die Erkenntnisse mit seinem Wissen vom Leben der einfachen Leute zur damaligen Zeit kombiniert. Sein Antrieb: Er möchte den Frauen, deren sterbliche Überreste nur mit Nummern versehen zu wissenschaftlichen Zwecken bis heute aufbewahrt wurden, ihre Identität wiedergeben.

Hilfe für Schwangere an Kieler Gebäranstalt

Ein schwarz-weiß Bild zeigt den Chef der Gebäranstalt Carl Conrad Theodor Litzmann.  Foto: screenshot
Carl Conrad Theodor Litzmann untersuchte die Form des weiblichen Beckens und wie es den Verlauf einer Geburt beeinflusste.

Wibke Butenschön und viele andere mittellose Frauen waren Patientinnen der Kieler Gebäranstalt. Als unverheiratete Schwangere haben sie ihre Stellung verloren. Sie sind verarmt und haben kein soziales Netz. In der Gebäranstalt werden sie versorgt und können mit fachlicher Hilfe entbinden, ohne dafür bezahlen zu müssen. Denn in der Institution werden Hebammen und angehende Mediziner ausgebildet. Und die Chefs des Hauses - zunächst Gustav Adolph Michaelis, dann sein Nachfolger Carl Conrad Theodor Litzmann - haben ein besonderes Forschungsinteresse.

Führende Forschung im 19. Jahrhundert

Wie die Form des weiblichen Beckens den Verlauf einer Geburt beeinflusst, ist damals die zentrale Frage der Geburtshilfe, sagt der Medizinhistoriker Dr. Ulrich Mechler. Mit ihrer systematischen Untersuchung der Beckenknochen Schwangerer zählen die Kieler Professoren im 19. Jahrhundert zu den führenden Forschern auf diesem Gebiet. Vor allem wollen sie verstehen, wie deformierte Becken sich auswirken und mögliche Komplikationen vorhersehen. Und deformierte Knochen haben damals viele Menschen.

Ausstellung der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung

Auch Wibke Butenschön litt in der Kindheit unter Rachitis: Ihre Knochen waren zu weich. Erst mit zwölf Jahren lernte sie laufen, mit 14 ohne Krücken gehen. Ihr Becken war da schon längst verformt. In der Kieler Gebäranstalt bringt sie eine Tochter zur Welt. Drei Tage später aber stirbt die Mutter. Der Leichnam wird obduziert, das deformierte Becken wird untersucht und kommt in die Forschungssammlung. Dort, im sogenannten "Beckenschrank", befindet es sich noch heute.

Der Schrank ist ein Exponat der Ausstellung "Female Remains", mit der die Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Kieler Universität an die Beckenforschung und an die Schicksale der Frauen erinnert, deren Überreste die Wissenschaftler für die Forschung nutzten. Das wirft auch ethische Fragen auf: Denn die Patientinnen wurden nicht gefragt, ob sie mit der Obduktion und der Untersuchung sowie Aufbewahrung und Präsentation ihrer Gebeine einverstanden waren.

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Dampflokomotive aus dem 19. Jahrhundert. © dpa - report Foto: Votava

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 01.11.2020 | 19:30 Uhr

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