Stand: 13.11.2015 11:54 Uhr

"1.000 Mal in der Laeiszhalle"

Heile: Wir können uns die Situation im Nachkriegssommer 1945 kaum vorstellen: Hamburg lag in Trümmern, die Menschen hatten traurige Verluste erlitten und schreckliche Erfahrungen gemacht. Mit welchen Emotionen ging man damals ins Konzert?

Das NWDR Sinfonieorchester und Hans Schmidt-Isserstedt bei einem Konzert in der Laeiszhalle (um 1955). © NDR
Das NWDR Sinfonieorchester und Hans Schmidt-Isserstedt bei einem Konzert in der Laeiszhalle (um 1955).

Schönborn: Man hatte eine Art Hungergefühl, sich innerlich wieder aufzubauen. Das äußerte sich zum Beispiel darin, dass ich mit vielen anderen bei den ersten Konzerten von Furtwängler über Nacht an der Vorverkaufsstelle angestanden habe. Die Interessenten hatten untereinander organisiert, dass sich jeder alle zwei Stunden wieder zur Stelle melden musste. Die Angereisten wie ich - von Flottbek zur Dammtorstraße - bekamen sozusagen eine Sondergenehmigung: Sie durften mit dem letzten Zug nach Hause fahren, mussten aber mit dem ersten wiederkommen, und dann natürlich bis zur Kassenöffnung warten. Wobei keineswegs sichergestellt war, dass ich um 10 Uhr drankam, denn die Schlange war so lang, dass ich vielleicht um 11.30 Uhr drankam ...

Donandt: Man könnte ja eigentlich denken, dass viele Leute 1945 auch gesagt haben: "Es gibt andere Probleme, wir müssen eher aufräumen als ein Orchester gründen" ...

Schönborn: Es gab vielleicht eine Fraktion, die so dachte. Die anderen haben in die Hände gespuckt und gleichzeitig nicht nur an Wirtschaft und Aufbau gedacht, sondern auch an Kultur und Bildung, an die Unterfütterung des Geistes. Dazu fällt mir ein Zitat aus Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ein. Es heißt dort: "Und ich fragte mich, ob nicht die Musik [...] das einzige Beispiel dessen ist, was – hätte es keine Erfindung der Sprache, Bildung von Wörtern, Analyse der Ideen gegeben – die Verständigung der Seelen hätte sein können. Sie ist wie eine Möglichkeit, die ohne weitere Folgen geblieben ist; die Menschheit hat andere Wege eingeschlagen, die der gesprochenen und geschriebenen Sprache." – Ein tolles Wort, nicht?!

Heile: Haben Sie persönlich diese Macht der Musik auch so stark empfunden?

Schönborn: Ja! Schon in der Kriegsgefangenschaft, wo die materiellen und geistigen Verhältnisse nun wirklich nicht gut waren, habe ich das erlebt: Da raffte sich ein evangelischer Pfarrer auf, predigte und riss auch nicht-gläubige Menschen mit. Und im Anschluss an solche Veranstaltungen wurden Gute-Nacht-Lieder gesungen – das ging einem durch Herz und Bein, wie dort Tausende Männer standen und gemeinsam das Brahms'sche "Guten Abend, gute Nacht" sangen! Auch in den Nachkriegsjahren waren die äußeren Umstände ja, wie Sie schon sagten, furchtbar kläglich, nicht nur, dass alles darniederlag ...

Ensemblebild des NWDR Sinfonieorchesters mit Hans Schmidt-Isserstedt aus den 50er Jahren © NDR
Gruppenbild mit Dame und Hans Schmidt-Isserstedt: Das NWDR Sinfonieorchester in den 50er Jahren.

Heile: Kommen wir noch einmal auf die Gründung des NDR Sinfonieorchesters zu sprechen: Wie haben Sie dessen erste Konzerte damals erlebt? Das muss ja ein sehr heterogenes Orchester gewesen sein, wenn man bedenkt, dass Schmidt-Isserstedt durch das Sperrgebiet Schleswig-Holstein auf der Suche nach Mitgliedern zog und die Musiker zum Teil aus den Gefangenenlagern Norddeutschlands rekrutierte ...

Schönborn: Man hat ihn ja auch für sein Geschick bewundert, dass er die Berliner Musiker Erich Röhn als Konzertmeister sowie Arthur Troester, Ferdinand Danyi und Heinrich Schüchner als Solo-Cellisten gewinnen konnte. Das kam wohl daher, dass Schmidt-Isserstedt an der Berliner Oper tätig gewesen war. Aber zu Ihrer Frage: Mir fehlten natürlich Vergleiche. Mein erstes Konzert mit dem NDR Sinfonieorchester war für mich nach dem Jochum-Konzert vom August 1945 ja erst das zweite Sinfoniekonzert, das ich in meinem Leben überhaupt erlebte. Von daher konnte ich da ehrlich gesagt nichts Besonderes feststellen, das war für mich alles ganz neu. Ich freute mich über das eine Orchester genauso wie über das andere. Es war ja auch sehr lange eine sehr gesunde Konkurrenz zwischen den beiden Orchestern.

Donandt: Ganz banale Frage: Hatten die Musiker in dieser schwierigen Situation nach dem Krieg eigentlich schon einen Frack an?

Schönborn: Das glaube ich nicht. Einheitliche Konzertkleidung trugen sie sicher noch nicht. Ich entsinne mich auch an einen der ganz großen Gastdirigenten, Erich Kleiber: Der erschien in einer grauen Hose – und das war sicher nichts Geckenhaftes, sondern eine Nachkriegserscheinung, möchte ich annehmen.

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