Dmitri Muratow © NDR Foto: Screenshot

Rede von Dmitrij Muratow: "Propaganda ist der Koch des Krieges"

Stand: 03.05.2022 12:00 Uhr

Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit äußert sich der Chefredakteur der Kreml-kritischen "Nowaja Gaseta", Dmitrij Muratow, zur Lage der Medien in seiner russischen Heimat und zum Krieg in der Ukraine. Seine Rede - hier im Volltext - ist auch Teil der NDR Sendung "Medien im Krieg - Pressefreiheit unter Druck" heute Abend.

von Dmitrij Muratow

Wie konnte es passieren, dass - zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit - die Menschheit selbst und das Leben auf dem Planeten vom Wollen und Willen eines einzelnen Menschen abhängt? Nämlich vom russischen Präsidenten, der den roten Atomknopf besitzt - immer dabei, entweder in seiner Jackentasche oder in einem Köfferchen unter seinem Tisch. Wie sind wir dahin gekommen? Eine zerstörte Zukunft, zerstörte Städte, ein nicht enden wollender Auszug Flüchtender. Mittlerweile sind schon zwölf Millionen Menschen auf der Flucht. Wie kamen wir zu diesen endlosen Exhumierungen von Leichen ukrainischer Zivilisten?

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Propaganda ist der Krieg selbst

Jetzt - so scheint es - gibt es eine sehr bestimmte Antwort auf diese sehr schwierige und tragische Frage. Diese Antwort lautet: die Vernichtung der vom Staat unabhängigen Medien, Repressalien gegen politische Opponenten und - das Wichtigste - die allumfassende Propaganda. Ich bin Zeuge davon, wie ein ganzes Volk - unser Volk - im 21. Jahrhundert einem geglückten Experiment unterzogen wurde: der Bestrahlung mit Propaganda. In Abwesenheit unabhängiger Medien beginnt die Propaganda immer einen Krieg vorzubereiten. Propaganda ist der Koch des Krieges! Propaganda ist der Krieg selbst!

Nachrichten-Sendungen durch Propaganda-Shows ersetzt

Zuerst werden die Nationalfeiertage mit militärischer Propaganda gefärbt, danach werden Nachrichten-Sendungen von Propaganda-Shows ersetzt. Dadurch entsteht eine These: dass die Wahrheit etwas ist, das dem Staat nutzt und den Interessen des Staates dient. Wenn du deine Heimat liebst, bedeutet das, du liebst seine Machthaber. Dieser These schließt sich die Kirche an. Sie proklamiert an jeder Ecke, dass jede Macht von Gott bestimmt sei.

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Die Gewöhnung an den Krieg

Zu den Höhepunkten dieser Methoden und dieser Manipulationen gehören die ständigen Erzählungen über neue Waffensysteme, die angeblich die ganze Welt zittern lassen. Somit lässt man bei dem Volk die Gewöhnung an den Krieg entstehen. Größe wird bei der Erzählung dem Wohlergehen übergeordnet. Und jetzt kommt der eigentliche Höhepunkt: die allmähliche Gewöhnung daran, dass Atomwaffen an sich nicht so schlecht seien. Man könne manchmal über ihren Einsatz nachdenken. Ich fürchte, wir haben mittlerweile viele willige Kandidaten für eine Talkshow, bei der der Gewinner das Recht erhält, den roten Knopf zu drücken.

Krieg wird in einem digitalen Format geführt

Die Propaganda hat Russland und die Ukraine in einen jahrzehntelangen Zustand der Feindseligkeit versetzt. Das Gleiche gilt für Russland und einen riesigen Teil der Welt. Dies ist eine Tragödie!

Aber es gibt noch eine weitaus größere Tragödie: Dieser Krieg wird auf elektronischen Geräten festgehalten. Dieser Krieg wird in einem digitalen Format geführt. Das heißt: Er wird niemals vergessen werden. Das heißt: Ab jetzt bis zum möglichen Ende der Menschheit werden, wenn man in Suchmaschinen den Buchstaben "M" eingibt, immer Fotos des dem Erdboden gleichgemachten Mariupol zu sehen sein.

Versteigerung der Friedensnobelpreis-Medaille

Was kann man tun? Was kann man tun, wenn man sich hilflos fühlt? Man hilft denjenigen, die noch schlechter dran sind als man selbst - nämlich den Geflüchteten, den Alten und den Kindern. Am 15. Mai findet eine Versteigerung statt, bei der die "Nowaja Gaseta" und ich die Goldmedaille des Friedensnobelpreisträgers 2021 zur Versteigerung anbieten werden. Das Geld wird Geflüchteten und ihren Kindern zugutekommen - unabhängig davon, in welchem Land der Welt sie sich befinden. Dafür bitten wir die UNICEF um Unterstützung.

Die Menschen wurden ihrer Zukunft beraubt. Man muss helfen, ihnen diese Zukunft zurückzugeben. In Sachen Vergangenheit können wir nicht mehr helfen. Jeder kann übrigens an dieser Versteigerung teilnehmen. Sie wird vom Auktionshaus "Heritage" durchgeführt. Man könnte dort Dinge aus Familienbesitz oder eigene Dinge, die einem lieb und teuer sind, bei der Versteigerung einbringen.

Keine freie Presse - keine Zukunft

Man muss sich dessen bewusst sein: Wenn es keine freie Presse gibt, gibt es keine Zukunft. Deshalb ist der Tag der Pressefreiheit kein Branchen- oder Firmen-Feiertag mehr. Dies ist ein Tag für die ganze Menschheit, wenn sie überleben möchte.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | NDR Info | 03.05.2022 | 23:30 Uhr

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