Kommentar: Zeugnis-Urteil führt zu Zwangsouting
In Hamburger Zeugnissen steht bislang nicht, ob ein Schüler oder eine Schülerin eine Behinderung hat. Das wird sich künftig ändern. Denn das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, dass die Behinderung im Zeugnis stehen darf, wenn deswegen bestimmte Leistungen nicht benotet wurden. Das nennt sich Notenschutz und soll die Behinderung eigentlich ausgleichen. Das Gericht will Transparenz schaffen sowie behinderte und nicht-behinderte Schülerinnen und Schüler gleichstellen. Doch das bedeutet, dass zum Beispiel die Lese- und Rechtschreibschwäche Legasthenie, Autismus oder Körperbehinderung bald im Abiturzeugnis stehen. Das ist ein Rückschritt für die Inklusion, meint Nina Rodenberg in ihrem Kommentar.
Halten wir mal kurz fest: Es gehört zu den Aufgaben des Staates, eventuelle Nachteile, die durch Behinderung entstehen, bestmöglich auszugleichen - und zwar ohne Menschen dabei zu stigmatisieren. Jetzt spricht das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von Chancengleichheit. Doch was das Gericht da entschieden hat, hat aus meiner Sicht rein gar nichts mit Chancengleichheit zu tun.
Die Entscheidung sollte bei jedem selbst liegen
Als Mensch mit Behinderung bin ich rechtlich nicht dazu verpflichtet, meine Behinderung öffentlich zu machen. Meine Diagnose fällt unter den Datenschutz. Dass das Gericht die Transparenz von Abiturzeugnissen höher wertet als den Schutz meiner Gesundheitsinformationen, kann ich beim besten Willen nicht verstehen. Im Grundgesetz steht, dass ich wegen meiner Behinderung nicht diskriminiert werden darf. Im Job darf mich niemand nach meiner Behinderung fragen, aber im Zeugnis darf - und soll - es dann jetzt künftig für alle sichtbar stehen. Die Entscheidung darüber, wann und wie ich mich oute, sollte doch aber wohl meine sein - und nicht die einer Schule.
Urteil könnte Jobsuche erschweren
Zu denken, dass diese Entscheidung keine Konsequenzen für das künftige Berufsleben hat, ist naiv. Wenn im Zeugnis einer Schülerin oder eines Schülers steht, dass die Rechtschreibung nicht benotet oder Sport nicht gewertet wurde, macht das möglicherweise etwas mit Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen. Sie sortieren im Zweifel aus, ohne überhaupt zu einem persönlichen Gespräch einzuladen. Und auf der anderen Seite könnten Schülerinnen und Schüler mit Legasthenie dann vielleicht lieber die schlechte Note in Kauf nehmen, statt Notenschutz zu beantragen. Was für eine schlimme Botschaft. Vor allem, weil sie sich an junge Menschen richtet, die noch lernen, mit ihrer Behinderung umzugehen.
Hamburg will Gesetzesänderung auf den Weg bringen
In Hamburg gibt es den Notenschutz bislang noch gar nicht, nur einen Nachteilsausgleich. Der sieht zum Beispiel mehr Zeit bei einer Klassenarbeit oder Hilfsmittel wie Wörterbücher vor. Das wird intern vermerkt und nicht im Zeugnis. Die Schulbehörde sagt aber selbst, dass sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgewartet hat, um rechtliche Klarheit zu haben. Schon in den nächsten Wochen wollen Senat und Bürgerschaft eine Gesetzesänderung auf den Weg bringen. Wer dann Notenschutz beantragt, legt seine Behinderung offen, wird stigmatisiert. Ich nenne das Zwangsouting.
Diskriminierung statt Chancengleichheit
Die Verfassungsrichter und -richterinnen stört vor allem, dass Notenschutz in Zeugnissen bislang nur bei Legasthenie angegeben wurde, wegen anderer Behinderungen aber nicht. Es geht dem Gericht um die Transparenz der tatsächlich erbrachten Leistung. Aber was heißt das denn, "tatsächlich erbrachte Leistung"? Im Bundesvergleich sagen Abiturzeugnisse sowieso nicht sehr viel aus. Und so lange Jugendliche über das nötige Wissen verfügen, ist es doch egal, ob sie die Leistungen mündlich erbracht haben, weil sie etwa wegen einer motorischen Behinderung nicht schreiben können, oder ob sie wegen einer Hörschädigung keine mündlichen Referate halten. Das Verfassungsgericht spricht von Chancengleichheit. Für mich ist das Diskriminierung. Denn zur Gleichstellung mit nicht-behinderten Menschen führt dieses Urteil leider nicht.