Sendedatum: 08.09.2010 23:05 Uhr

Das Löschen von Internet-Archiven

von Maik Gizinski

Seite 404 - Waren Sie da auch schon? Im Internet ist sie derzeit eine der erfolgreichsten Seiten. Was allerdings alles andere als ruhmreich ist. Denn die 404 ist die Seite, auf die Sie gelangen, wenn Sie was suchen, was vorher drin war im Netz, jetzt aber gelöscht wurde. Depublizieren heisst das im Fachjargon. Und depubliziert wurde viel in den letzten Monaten. Zum Ärger der Gebührenzahler. ZAPP über Links, die ins Leere laufen.

 

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"Plötzlich und unerwartet ging sie von uns: Die Publizierung", heißt es in einer Todesanzeige in diesen Tagen. "Es trauern: Die Surfenden bei ARD & ZDF. Und die Redakteure, auch bekannt als: "Depublizierer". Was aussieht wie ein Scherz, ist keiner.

Jörg Sadrozinski, Redaktionsleiter tagesschau.de: "Wir mussten mehr als 270.000 Videos aus unserem Angebot herausnehmen. Mehr als 250.000 Texte. 25.000 Audios. Also eine ganze, ganze Menge Inhalte, um die es natürlich sehr, sehr schade ist."

Verluste für den Nutzer

Eckart Gaddum, Leitung Neue Medien, ZDF: "Das waren, ich sag jetzt mal bei heute.de, ein Prozentsatz von weit über 90 Prozent  des vorhandenen Textsatzes, den wir im Grunde rausschmeißen mussten. Und das ist ein Verlust an Hintergrund und ein Verlust an Freiheit für den User."

Ein Verlust für den Nutzer. Die ZDF-Onlinejournalisten aber sind dazu gezwungen: Für ihre Texte oder Videos im Internet müssen sie jetzt ein Verfallsdatum bestimmen: Abhängig vom Thema dürfen die Inhalte meist sieben Tage, ein halbes  Jahr oder 12 Monate im Netz bleiben. Danach wird automatisch depubliziert:  Alles geht wieder offline. Auch die Themen, die aktuell brisant sind, wie die Atomkraft. Wie lange dürfen die alten Meiler am Netz bleiben? Wann gelingt der Ausstieg? Schon im Kanzlerduell  vor einem Jahr wurde darüber gestritten. Ein spannender Konflikt, aber eben zu alt für das Onlineangebot von ARD und ZDF.

Eckart Gaddum, Leitung Neue Medien, ZDF: "Nach den Regeln des Depulikationskonzeptes muss ich das Ding jetzt eigentlich rausschmeißen. Im Automatismus ist jetzt drin: 'AKW-Debatte/Duell: Raus!' Ja? Jetzt müssen wir händisch rangehen, um zu sagen: 'Ok, das ist eine aktuelle Debatte, das muss drin bleiben.' Aber es zeigt sozusagen das Problem. Der User hat nicht mehr, wie vorher, die Möglichkeit, frei zu entscheiden, wann er welche Inhalte abrufen will. Das ist der entscheidende Punkt. Das ist, wenn man so will, die Versündigung an der Idee des Internets."

"Ein bisschen weltfremd"

Und das hier sind die Sünder. Schon 2008 einigten sich die Ministerpräsidenten auf einen neuen  Rundfunkänderungsstaatsvertrag. Und beschlossen damit das Ende des Online-Archivs von ARD und ZDF. Über die Tragödie bei der Loveparade vor wenigen Wochen dürfen die Öffentlich-rechtlichen zwar weiter berichten. Auch über die 21 Opfer und die Suche nach den Verantwortlichen. Doch wie die Loveparade überhaupt nach Duisburg kam, das ist länger als ein Jahr her und gehört damit offline. Selbst der Jahrhundertsturm Kyrill, der 2007 Norddeutschland verwüstet hat: Bei ARD und ZDF findet er sich im Internet nicht mehr.

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Markus Beckedahl, Blogger "netzpolitik.org": "Heutzutage gibt es im Internet so viel Platz, dass auf den Webseite der Sender die ganzen Archivinhalte immer noch bereit gestellt werden können. Und, das ist eigentlich eine Errungenschaft des Internets. Und wenn man jetzt hingeht und diese ganzen Inhalte künstlich wieder raus nimmt, nicht mehr zugänglich macht, dann ist das ein bisschen weltfremd."

Weltfremd und absurd: Zehntausende Links zu Videos oder Hörfunkberichten laufen jetzt ins Leere. "Seite nicht gefunden." Der Wettskandal um Schiedsrichter Robert Hoyzer. Fünf Jahre alt. Mit jeder neuen Enthüllung über dubiose Sportwetten ist er wieder aktuell. Doch im öffentlich-rechtlichen Internet ist Hoyzer verschwunden. Auch die Doping-Rundfahrt, die Tour de France 2006, bei der Jan Ullrich suspendiert wird: Offline. Obwohl  bis heute nicht alle Fragen geklärt sind.

Wolfgang Fürstner, Verband Deutscher Zeitschriftenverleger: "Es ist, ja ein Prozess, der in allen Medien stattfindet, dass ältere, Archivsendungen oder Archivbeiträge irgendwann mal nicht mehr die Relevanz haben, dass man sie aufheben muss. Ich will das gar nicht so sehr im Detail bewerten, das ist mir auch zu klein argumentiert."

Das Klein-Argumentieren aber ist der große Ärger der Leser und Zuschauer. Sie finden im Internet nicht mehr das, was sie suchen und was sie bisher doch immer finden konnten.

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Jörg Sadrozinski, Redaktionsleiter tagesschau.de: "Ich glaube, es ist sehr, sehr schwer, das dem Zuschauer zu vermitteln, dass Inhalte zunächst mit Gebührengeld erstellt wurden und dann hinterher mit Gebührengeld wieder depubliziert wurden. [...] Wir haben sehr, sehr viele Proteste von Zuschauern bekommen. Ganz, ganz viele E-Mails, ganz viele Einträge in Blogs, Anfragen, wo man sich beschweren könne, was man machen könne, um dieses Gesetz eben zu revidieren."

Eckart Gaddum, Leitung Neue Medien, ZDF: "Wieso werden Inhalte, für die ich hier Rundfunkgebühren bezahlt habe, nach sieben Tagen rausgeschmissen? Ja? Also, das kannst du gar nicht oft genug erklären. Also, das beschäftigt hier Menschen permanent, die den Usern oder Nutzern, Fernsehzuschauern erklären müssen: 'Deine Inhalte sind leider nur begrenzt anschaubar.'"

Krieg um die Macht im Internet

Doch ARD und ZDF müssen sich beugen. Seit Jahren tobt ein regelrechter Krieg um die Macht im Internet. Die Verlage wollen wachsen, die öffentlich-rechtlichen sollen schrumpfen. 

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Wolfgang Fürstner, Verband Deutscher Zeitschriftenverleger: "Dass das Staatsfernsehen, das Fernsehen, das durch Gebühren finanziert wird, also treuhänderisch verwaltet werden muss, Märkte der privaten Medien kaputt macht, das ist nicht in Ordnung. Und das kritisieren wir."

Markus Beckedahl, Blogger "netzpolitik.org": "Es ist für mich wenig nachvollziehbar, warum die Geschäftsmodelle von Verlegern und Verlagen gefährdet sind, wenn ältere Inhalte von einer, Politiktalkshow oder Zapp Interviews, die vor einem Jahr oder vor zwei Jahren gelaufen sind, im Internet immer noch verfügbar sind. Verleger verdienen in der Regel vor allen Dingen Geld mit tagesaktuellen Inhalten."

Eckart Gaddum, Leitung Neue Medien, ZDF: "Wie steht denn Spiegel Online da? Spiegel Online ist doch, ist doch sozusagen der Platzhirsch in dem Feld. Ich habe nicht den Eindruck, dass tagesschau.de oder heute.de die morgen vom Platz fegen. Den Eindruck habe ich nicht. Das Problem der Verleger ist doch: Sie wittern: Videos sind im Kommen, Bewegtbild ist im Kommen."

Online-Inhalte sollen kostenpflichtig werden

Und so sollen ARD und ZDF ihre Texte, Audios und Bewegtbilder jetzt "offline stellen": Knapp tausend Dokumente hat allein Zapp depubliziert, ohne dass irgendjemand davon profitiert hat. Doch das alles passt gut zu den Plänen der Privaten: Sie wollen Online-Inhalte auf Dauer kostenpflichtig machen. Mühsam ist es, die Nutzer daran zu gewöhnen. Und öffentlich-rechtliche Angebote stören da nur.

Wolfgang Fürstner, Verband Deutscher Zeitschriftenverleger: "Es wird immer deutlich gemacht an tagesschau.de: Müssen Nachrichten der öffentlich-rechtlichen Sender, ohne dass dieses nun das Problem umfassend beschreiben würde, müssen die tatsächlich ins Internet gestellt werden, oder ist das nicht das Privileg der privatwirtschaftlich verfassten Medien?"

Jörg Sadrozinski, Redaktionsleiter tagesschau.de: "Selbstverständlich muss es sein. Denn wir sind momentan in einer Zeit, des Medienwandels und in dem auch Medien unterschiedlich genutzt werden. Das heißt, es gibt für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch eine Bestands- und Entwicklungsgarantie. Insofern machen wir nichts, was verboten wäre. Insofern wundert es mich auch so ein bisschen, dass die Zeitungsverlage oder dann eben deren Lobby-Verbände genau derartige Fragen stellen."

Die Mediatheken von ZDF und ARD sind ausgedünnt. Millionen Filme und Hörfunk-Berichte sind für die Zuschauer vorerst verloren, obwohl die sie doch bezahlt haben.

Markus Beckedahl, Blogger, netzpolitik.org: "Und wenn wir das alles wieder verstecken in den Archiven, dann verstecken wir auch den Zugang zur Kultur, den Zugang zur Zeitgeschichte."

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ZAPP | 08.09.2010 | 23:05 Uhr