Sendedatum: 22.09.2010 23:05 Uhr

Der Kampf der Netzaktivisten gegen das Depublizieren

von Maik Gizinski

Es ist Wahnsinn. Erst sind öffentlich-rechtliche Journalisten jahrelang damit beschäftigt, Themen zu recherchieren und zu realisieren. Und dann müssen sie Zeit und Gebühren verschwenden, um sie wieder zu löschen. Der Rundfunkänderungsstaatsvertrag sieht dies vor. Und daher müssen ARD und ZDF ihre Archive im Internet verkleinern. Mehr als eine Million Dokumente sind so schon verschwunden, zum Ärger vieler Gebührenzahler. Die Internet-Nutzer laufen Sturm. Zapp über die Retter der Archive.

 

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Jesus - eine Wieder-Auferstehung, glanzvoll und unerwartet. Das gibt es auch heute noch. Wiederauferstanden ist jüngst das Archiv von tagesschau.de. Nachrichten der letzten zwölf Jahre, die auf tagesschau.de nicht mehr zu finden sind. Die Website depub.org hat sie nun wieder veröffentlicht. Dazu meint Jörg Sadrozinski, Redaktionsleiter von tagesschau.de, dass es im Prinzip ein Urheberrechtsverstoß sei, "insofern können wir das nicht begrüßen. Auf der anderen Seite ist es natürlich schön, dass unsere Inhalte, die wir ja mit einer gewissen Mühe und Anstrengung erstellt haben, jetzt für das Publikum auch gerettet sind und gerettet bleiben".

 

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Tagesschau.de selbst nämlich durfte sie nicht retten. Über 270.000 Videos, mehr als 250.000 Texte mussten die tagesschau.de-Redakteure zum ersten September offline stellen. Depub.org stellt die Inhalte  nun wieder online: das komplette Tagesschau-Archiv, wenn auch vorerst nur in Textform. Für Johnny Haeusler, Blogger von spreeblick.com, ist es "ja fast so eine Robin-Hood-Aktion, also zu sagen: 'Wir nehmen es und geben es zurück'". Und Tarek B. Brauer, Anwalt für Medienrecht, findet, "das ist eine ganz kreative Art und Weise, hier mit einer doch zweifelhaften gesetzlichen Regelung umzugehen und diese zu umschiffen".

12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag

Diese zweifelhafte Regelung, den sogenannten Drei-Stufen-Test, haben sich die Ministerpräsidenten ausgedacht. Im 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag beschlossen sie das Ende der Online-Archive von ARD und ZDF. Und so bekamen auch die Verleger, was sie wollten:  Weniger Konkurrenz im Netz. Denn Texte oder Videos müssen jetzt ein Verfallsdatum bekommen: Abhängig vom Thema dürfen sie meist sieben Tage, ein halbes Jahr oder zwölf Monate im Netz bleiben. Danach wird automatisch depubliziert: Alles geht wieder offline.

Johnny Haeusler: "Man muss sich ja auch mal fragen, was das alles für die Geschichtsschreibung bedeutet. Ich meine, das ist ja fantastisch für jede Gesellschaft, wenn sie ihre Nachrichten und ihre Beiträge aus seriösen Quellen sammelt und nach wie vor zur Verfügung stellt. Ich meine, was ist, was bedeutet das in 50 Jahren, wenn ich auf die Nachrichten von heute zurückgreifen kann?"

 

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Zum Beispiel auf die Tragödie bei der Loveparade vor wenigen Wochen dürfen die Öffentlich-Rechtlichen dürfen zwar weiter berichten, auch über die 21 Opfer und die Suche nach den Verantwortlichen. Doch wie die Loveparade überhaupt nach Duisburg kam, das ist länger als ein Jahr her und gehört neuerdings offline. Auch der Wettskandal um Schiedsrichter Robert Hoyzer ist fünf Jahre alt. Mit jeder neuen Enthüllung über dubiose Sportwetten ist er wieder aktuell. Doch im öffentlich-rechtlichen Internet ist Hoyzer verschwunden - bis jetzt.

Depub.org stellt alles wieder online

Bald soll das tagesschau.de-Archiv auch wieder als echte Mediathek nutzbar sein: Mit Fotos und Filmberichten. Haeusler findet das "großartig. Wir leben ja in Zeiten, in denen es ziemlich schwer ist, die Leute davon zu überzeugen, warum sie GEZ zahlen sollen und warum sie öffentlich-rechtliche Inhalte finanzieren sollen. Und das macht man natürlich nicht leichter, indem man sagt, 'diese Inhalte, die wir mitfinanziert haben als Bürger, sollen dann aber sofort wieder verschwinden. Die kann man also nicht als Archiv abrufen'. Und insofern ist das doch eine gute Aktion, wenn man diese schon finanzierten Inhalte wieder öffentlich zugänglich macht."

Brauer meint, dass man so eventuell moralisch und politisch argumentieren könne und "die Diskussion ist ja auch in heftigem Gange. Ob dieser Drei-Stufen-Test, der dem Rundfunkstaatsvertrag dort festgeschrieben worden ist, ob der Sinn macht, ob der angemessen ist. Juristisch kann man so im urheberrechtlichen Sinne nicht argumentieren".

 

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Die Urheberrechte liegen bei tagesschau.de, beim NDR in Hamburg. Dass depub.org die Archivinhalte der Tagesschau veröffentlicht, ist deshalb illegal und könnte juristische Folgen haben. Sadrozinski meint: "Natürlich, wir haben Verträge mit Drittanbietern, dass heißt also mit Nachrichtenagenturen beispielsweise, die eben explizit sagen, dass wir diese Inhalte nicht weitergeben dürfen. Insofern ist der NDR da auch in der Pflicht dem nachzugehen, aber wir rechnen natürlich nicht damit oder ich rechne nicht damit, dass das erfolgreich ist."

Eine anonyme Website

Für den Medienanwalt Brauer ist die große Frage: "Was will man machen? Wenn man eine Klage erhebt, um dort die Rechte durchzusetzen, weiß man gar nicht, wer dort Klagegegner sein soll. Man weiß nicht, wie man so eine Klage zuzustellen hat. Man weiß gar nicht, gegen wen man vollstrecken soll." Denn die Macher von depub.org sind anonym und wollen es bleiben. Sie geben keine Fernsehinterviews, auch aus Angst, denn Urheberrechtsverletzungen sind eine Straftat. Es drohen sogar Haftstrafen von bis zu fünf Jahren.

Deswegen kann Haeusler "durchaus nachvollziehen, dass man da erst mal im Dunkeln arbeiten möchte. Ich hab ja die Vermutung oder vielleicht sogar die Hoffnung, dass Leute aus der Tagesschau-Redaktion selbst oder Leute, die mit den öffentlich-rechtlichen zusammenarbeiten, dahinter stecken. Das wär einfach toll, wenn diejenigen, die für die Öffentlich-rechtlichen arbeiten oder mit ihnen arbeiten, tatsächlich da mal das Ruder in die Hand nehmen".

Wer da das Ruder in die Hand nimmt, bleibt Spekulation. Das Boot jedenfalls schlägt hohe Wellen im Internet. Und doch ist es unwahrscheinlich, dass ihm jemand auf die Schliche kommt. Wie Brauer meint, haben die "das natürlich sehr, sehr intelligent gemacht, das muss man sagen. Sie haben ihre Identität verschleiert, der Server ist höchstwahrscheinlich im Ausland gelagert, so dass die Rechtsdurchsetzung schwierig wird. Und natürlich hat man sowohl als Rechtsanwalt als auch als normaler Bürger eine gewisse Sympathie für derartige Guerrilla-Taktiken. Nichtsdestotrotz: Es ist, stellt am Ende eine Rechtsverletzung dar und sogar eine Straftat."

Doch die Macher von depub.org planen schon neue Straftaten. Sie wollen bald auch Mediatheken von anderen Sendern wieder online stellen. Die Internetnutzer wissen sich offenbar zu helfen, will man sie um ihre Inhalte bringen.

Jörg Sadrozinski: "Ich hoffe sehr, dass die Politiker oder auch die Lobbyisten in den Verlagen merken, dass derartige Maßnahmen einfach sinnlos sind, dass das Internet nie vergisst, wie man so schön sagt."

Johnny Haeusler: "Der Begriff der Depublikation ist natürlich insofern im Netz schon mal ein bisschen albern, weil alles, was mal im Netz war, wird auch nach wie vor verfügbar sein. Abgesehen davon, dass ich natürlich Inhalte selbst irgendwie auf meinen Rechner laden kann und sie wieder zur Verfügung stellen kann, könnte dieser Begriff der Depublikation ein Kampf gegen Windmühlen sein."

Doch erst einmal geht das Depublizieren weiter: Jeden Tag müssen sie bei tagesschau.de Hunderte Beiträge offline stellen. Und solange das so bleibt, werden diese eben von anderen veröffentlicht.

 

Dieses Thema im Programm:

ZAPP | 22.09.2010 | 23:05 Uhr

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