Zwischen den Fronten: Berichten aus Belarus
Riesige Protestmärsche, streikende Fabrikarbeiter, weiß gekleidete Frauen am Straßenrand: Die bildstarken Proteste in Belarus beherrschen die Nachrichten und Newsfeeds. Doch über Tage hinweg stammten die Berichte davon oft von Journalistinnen und Journalisten, die gar nicht selbst vor Ort waren.
Korrespondenten sitzen in Moskau fest
Die ZDF-Korrespondentin Phoebe Gaa zum Beispiel sitzt für das Interview mit ZAPP im ZDF-Studio in Moskau, wäre aber lieber in Minsk. Eine Reise nach Belarus war für sie bisher nicht möglich. Denn die russischen Corona-Richtlinien erschweren die direkte Berichterstattung: "Das Problem für uns Korrespondenten hier in Moskau ist, dass wir nach einer Dienstreise nach Minsk wohl nicht zurück nach Russland reisen können. Die Grenzen sind für Ausländer weitestgehend geschlossen."
Deswegen hat das ZDF-Studio ein russisches Fernsehteam nach Minsk entsandt, von dort wird das Material nach Moskau geschickt - und landet dann in den Berichten der Korrespondentin in den ZDF-Nachrichten. Phoebe Gaa bedauert dieses Berichten auf Distanz: "Mir als Korrespondentin blutet das Herz, wenn ich nicht vor Ort sein kann. Ich möchte mit den Leuten sprechen, ich möchte die Atmosphäre aufsaugen. Deswegen mache ich den Job ja."
Auch viele andere deutsche Medien berichten nur aus der Ferne oder schickten ihre Reporter erst mit einiger Verspätung. Die "Bild"-Zeitung war mit ihrem Team früher vor Ort als viele andere, seit Freitag berichtet Vizechefredakteur Paul Ronzheimer aus Minsk. Die Mediengruppe RTL, die auch hinter n-tv steht, erklärt gegenüber ZAPP, sie habe kein eigenes Reporterteam vor Ort. Die ARD ist erst seit Sonntag mit dem Korrespondenten Jo Angerer in Belarus vertreten - laut einem Sprecher "wohl wissend, dass er möglicherweise über Monate nicht nach Moskau zurückkehren kann."
Keine Akkreditierung für Belarus
Doch es hakt nicht nur bei der Rückreise nach Russland. Viele ausländische Journalistinnen und Journalisten erhalten derzeit überhaupt keine Akkreditierungen in Belarus. Diese sind aber notwendig, um von dort zu berichten. Doch die Bearbeitung wird verschleppt, es wird auf Corona verwiesen und die Anträge versickern. Die wenigen, die dennoch seit der Präsidentschaftswahl im Land sind, haben mit staatlicher Willkür zu kämpfen. Videos von Festnahmen und Übergriffen auf Journalistinnen und Journalisten zirkulieren in den sozialen Medien. Der deutsche Kameramann Gerald Gerber war bis vor Kurzem als Privatperson im Urlaub in Belarus.
Als er die Proteste beobachtet, beginnt er, mit dem Handy zu filmen. Er wird Zeuge von wachsendem Protest auf den Straßen und gewalttätigen Übergriffen durch die Polizei. Die Bilder sendet er nach Deutschland - bis ihn belarussische Geheimdienstler zwingen, auszureisen. Er wird von ihnen verhört, immer wieder aufgehalten und mehrfach in seinem Hotel aufgesucht. Der Druck nimmt zu, bis er etwa eine Woche nach seiner Einreise das Land verlassen muss. Der Vorwurf: Er "destabilisiere" das Land.
Social-Media-Kanäle liefern Bilder
Viele deutsche Medien greifen neben anderen Informationsquellen nun auch auf Material aus bislang ungewohnten Quellen zurück. Die Messenger-App "Telegram" ist in Belarus sehr beliebt, hier verbreiten sich Bilder und Nachrichten von den Protesten. Als in Belarus in den Tagen um die Wahl landesweit das Internet ausfällt, gestört mutmaßlich von der Regierung selbst, ist Telegram eine der wenigen Möglichkeiten, trotzdem zu berichten, erzählt der belarussische Journalist Anton Trafimovich von Radio Free Europe / Radio Liberty. Der US-Auslandssender wird vom Kongress der Vereinigten Staaten finanziert und hat unter anderem den Auftrag, sich für Demokratie und freien Zugang zu Nachrichten einzusetzen.
Nicht nur für ihn ist dabei der populäre Telegram-Kanal "NEXTA Live" eine der wichtigsten Informationsquellen. NEXTA wird von jungen belarussischen Bloggern betrieben, die in Warschau im Exil leben. Der Kanal hat inzwischen über zwei Millionen Abonnentinnen und Abonnenten, jeden Tag landen hier Hunderte Fotos und Videos. Für Trafimovich ist die Relevanz von NEXTA für die Mobilisierung der Proteste kaum zu unterschätzen: "NEXTA hat einen riesigen Einfluss auf die Geschehnisse in Belarus. Wenn Leute z.B. Videos aufnehmen, dann senden sie diese nicht zu "Radio Free Europe" oder "TUT.by", eines der angesehensten Medien in Belarus oder anderen Medienunternehmen. Sie senden sie NEXTA." Das Problem: NEXTA hat eine Agenda, gibt Informationen weiter, ist aber auch eindeutig Partei: Gegen Lukaschenko, für Proteste und Widerstand. Da sind die Grenzen von Journalismus und Aktivismus fließend.
Als Journalisten verfolgen die ZDF-Korrespondentin Phoebe Gaa in Moskau, Anton Trafimovich in Minsk und vermutlich auch alle anderen Berichterstatter den NEXTA-Kanal aufmerksam. Die Informationen und Bilder im Netz geben Einblick in ein immer noch schwer zu erreichendes Land. Allerdings gibt es hier, wie auf vielen digitalen Kanälen auch eine wachsende Zahl an Falschmeldungen. Berichte und Behauptungen, die schwer nachzuprüfen sind - erst recht, wenn man nicht selbst vor Ort sein kann.