Wahlkampf 2021 - Politiker:innen zwischen Hass und Hetze

Stand: 31.08.2021 12:00 Uhr

Der Sommer vor der Bundestagswahl ist für Politiker:innen eine Zeit, in der sie den Menschen endlich wieder direkt begegnen können: kein Wahlkampf mehr nur über das Internet. Neben der Freude darüber ist bei Vielen aber auch Sorge zu spüren: wie reagieren die Menschen auf sie? Denn eine bundesweite Umfrage zeigt: Die Mehrheit ist Anfeindungen ausgesetzt.

von Marie Blöcher, Andrea Brack Peña und Lea Struckmeier

Karl Lauterbach im Gespräch mit einer Frau © NDR Foto: Screenshot
Ist Anfeindungen mittlerweile gewöhnt: SPD-Politiker Karl Lauterbach.

"Ich hoffe, Sie können sich noch im Spiegel angucken", ruft eine Frau, die mit dem Fahrrad an einem Wahlkampf-Stand der SPD vorbeifährt. Die Worte gelten Karl Lauterbach, der in der Corona-Pandemie zu den prominentesten Stimmen gehört - und für den verbale Angriffe seitdem zum Alltag geworden sind.

Seine Personenschützer:innen weichen ihm heute nicht von der Seite. "Solange es bei mündlicher Pöbelei bleibt, ist das okay. Solange keine Gefährdung ist. Also wenn jemand die Pöbelei macht, macht mir nichts mehr aus. Oder macht mir nicht mehr soviel aus", sagt Lauterbach.

Attacken als neue Normalität?

Karoline Otte © NDR Foto: Screenshot
Grünen-Politikerin Karoline Otte will sich von Anfeindungen nicht in ihrer politischen Überzeugung verbiegen lassen.

Verbale Attacken als Normalität: So geht es vielen in der Politik. Auch weniger prominente Politiker:innen sehen sich zunehmend Hass, Hetze und sogar Morddrohungen ausgesetzt. Der Unterschied: sie sind weniger geschützt. Karoline Otte kandidiert für die Grünen in Niedersachsen. Auch sie erfährt Anfeindungen, bekommt Nachrichten, in denen es heißt: "Wir werden Euch alle ausschalten", oder "Ihr seid die Nächsten". Das geht nicht spurlos an der 24-Jährigen vorüber: "Ich denke schon zweimal darüber nach, ob ich mich zu diesem Thema äußern sollte. Auf der anderen Seite ist es aus meiner politischen Sicht heraus absolut notwendig, dass wir darüber reden."

Eine von Panorama 3 durchgeführte Umfrage unter allen Politiker:innen der sechs großen Parteien, die für den Bundestag kandidieren zeigt: ein Großteil der Befragten erlebt aggressive, verbale Angriffe - über soziale Medien, per Mail, per Post, Fax oder Telefon.

Und Corona hat offenbar zu einer weiteren Verrohung beigetragen:

Krisen bieten Zulauf für extremistische Positionen

Nicole Deitelhoff © NDR Foto: Screenshot
Nicole Deitelhoff ist Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main.

Die Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff sagt, dass die Pandemie die Art zu kommunizieren in der Gesellschaft verändert hat. "In einer solchen Situation nimmt einfach Unsicherheit in einem Ausmaß zu, dass Angst immer stärker wird. Und das führt dazu, dass man unglaublich schlecht streitet. Krisen, große Unsicherheit - das gibt immer Zulauf für extremistische Positionen, weil in der Unsicherheit nach alternativen Lösungen und Heilsbringern gesucht wird." Wenn die Verrohung weiter zunimmt, bestehe laut Deitelhoff die Gefahr, dass sich immer mehr Bürger:innen gar nicht mehr an Diskussion beteiligen würden.

Preisler sucht Dialog mit den Querdenkern

Hagen Reinhold (l.) und Karoline Preisler © NDR Foto: Screenshot
Hagen Reinhold und Karoline Preisler (beide FDP) suchen mit allen das Gespräch.

Karoline Preisler hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch mit Menschen im Gespräch zu bleiben, die ihr kritisch oder sogar feindselig gegenüberstehen. Und das obwohl die FDP-Politikerin aus Mecklenburg-Vorpommern während der Corona-Pandemie heftiger angegangen wurde als je zuvor, wie sie sagt. Dass sie selbst schwer an Covid-19 erkrankt war, habe sie besonders verletzlich gemacht. Gerade wegen dieser Erfahrungen geht sie bis heute auf Demonstrationen der sogenannten Querdenker:innen; versucht ins Gespräch zu kommen und auch Corona-Leugner:innen von der Gefahr des Virus und der Notwendigkeit der Gegenmaßnahmen zu überzeugen.

"Ich glaube, wir müssen uns um jeden einzelnen Menschen in unserer Demokratie bemühen denn seine Funktion meines Gesprächspartners ist die wichtigste im ganzen Land. Denn er nimmt an Wahlen und Abstimmungen teil und entscheidet darüber, wie das Parlament besetzt wird", sagt Preisler. Auch im Wahlkampf sucht sie den Austausch mit möglichst vielen Bürger:innen. Den Sommer über begleitet sie ihren Mann Hagen Reinhold (FDP), der für den Bundestag kandidiert. Dass sie teils massive Anfeindungen erfahren, geht nicht spurlos an dem Paar vorüber. "Es gibt viele Momente, wo wir abends zu Hause sind und uns sagen: 'Boah, das ist aber auch - tun wir uns das weiter an?'", sagt Reinhold. "Und wir sind immer zu dem Ergebnis gekommen: jetzt erst recht."

Die Umfrage von Panorama 3 zeigt jedoch: Es gibt auch Politiker:innen, die ihr Verhalten ändern, wenn sie Anfeindungen erfahren - hier ein Auszug der Antworten:

"Ich bin weniger offen in sozialen Medien, poste weniger deutlich meine Meinung." Kandidatin, CDU

"Ich schränke die Möglichkeiten der direkten Kontaktaufnahme ein." Kandidatin, Die Linke

"Ich wähle bewusst eine zurückhaltendere Formulierung, was eigentliche Aussagen schwächt - aus Sorge vor einer etwaigen Fehlinterpretation." Kandidat, FDP

"In manchen Fällen äußere ich meine persönliche Meinung nicht mehr." Kandidat, AfD

"Ich überlege z.B. im Internet sehr genau, wie und in welchem Kontext und mit welchen Worten ich mich äußere. Dabei rechne ich quasi schon den Reboundeffekt mit ein." Kandidatin, Die Grünen

"Vermeide Stellungnahmen zu bestimmten Themen - bzw. bewerbe bestimmte Posts in Social Media nicht." Kandidatin, SPD

Alaows: Rückzug statt Bundestag

Tareq Alaows © NDR Foto: Screenshot
Wegen Rassismus und Drohungen zog der Grüne Tareq Alaows seine Bundestags-Kandidatur zurück.

Im Extremfall kann Hass sogar zum Rückzug von der politischen Bühne führen: Tareq Alaows ist vor sechs Jahren aus Syrien geflohen, auch er kandidierte für die Grünen für den Bundestag. Doch dann zog der 32-jährige seine Kandidatur zurück: zu massiv waren Hetze und Drohungen, zu groß die Angst, ihm oder seiner Familie könnte etwas passieren. Im Nachhinein zieht er eine bittere Bilanz: "Eine Person, die die ganze Unterstützung wie ich bekommt und trotzdem nicht in der Lage war, am Ende die Kandidatur durchzuziehen - das ist eine große Gefahr für unsere Demokratie."

Hetze trifft ganz bestimmte Gruppen

Martin Fuchs © NDR Foto: Screenshot
Martin Fuchs berät Verbände, Parteien - und auch Politiker*innen.

Bestimmte Gruppen seien besonders von Anfeindungen betroffen, sagt Politikberater Martin Fuchs. Dazu zählten unter anderem Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch queere Personen. Wenn diese Gruppen davor zurückschrecken, in die Politik zu gehen, weil sie Anfeindungen fürchten, sei das ein großes Problem: "Es wäre fatal, weil wir gerade zu wenig Frauen in den Parlamenten haben. Wir haben zu wenig migrantische Politiker:innen in den wichtigen Führungspositionen, aber auch im Parlament. Und wir haben zu wenig junge Leute im Parlament. Und wenn die sagen: 'Nein, das ist nicht mehr attraktiv für uns', dann haben wir eine Unwucht in einer repräsentativen Demokratie."

Wie also kommen wir zurück zu seiner sachlichen Debatte, an der möglichst viele Menschen teilnehmen wollen? Wie gelingt wieder eine Diskussionskultur ohne Beleidigungen, ein Streit ohne Hass? Vielleicht müssen gerade Politiker:innen es jetzt vormachen: weg von den persönlichen Angriffen, wieder hin zu einem Streit über Inhalte. Und zwar immer - ganz unabhängig von einer Wahl.

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Debattenkultur © Imago

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 31.08.2021 | 21:15 Uhr

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